Die große Zusammenkunft der Herrscher und
Politiker Europas beim Wiener Kongreß be-
deutete nicht nur ein politisches, sondern auch
ein gesellschaftliches Ereignis ersten Ranges.
Die Monate, die die vornehme internationale
Gesellschaft in Wien versammelt sahen und
einer glanzvollen Entfaltung höfischer Re-
präsentation und modischer Eleganz Anlaß
boten, bildeten eine großartige Gelegenheit,
die Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit Wiens
auf dem Gebiet der Textilkunst und Mode
zu erweisen. Sowohl die verschiedenen neuen
Erzeugnisse der Seiden- und Bandweber wie
die modischen Schöpfungen in Kleidern und
allen Arten von Accessoires haben diese
Probe bestanden und sind von vielen in Wien
weilenden Fremden geriihmt worden. Diese
Höhe der verschiedenen Gewerbezweige mag
recht erstaunlich wirken, wenn man die wirt-
schaftliche Lage Österreichs in dem unmittel-
bar vorausgehenden Jahrfünft bedenkt. Wie
konnten in einem Land, dessen Kräfte der
Krieg bis zum äußersten angespannt hatte
und dessen Notlage erst 1811 im Staats-
bankrott seinen sichtbarsten Ausdruck ge-
funden hatte, sich die Erzeugung von Luxus-
warcn und Modebeiwerk ausbreiten?
Tatsächlich hat sich die wirtschaftliche Krise
der Jahre zwischen 1809 und 1813 auch auf
allen Zweigen der Textilindustrie in Österreich
sehr stark geltend gemacht. Der Linzer
Wollzeug-, Tuch- und Teppichfabrik, dem
größten ärarischen Unternehmen der Erb-
lande, wurden, wie der Direktor 1814 in
einem Bericht an die Hofkammer ausführte,
„durch den glücklichen Krieg doch unheilbare
Wunden geschlagen"; Mangel an Geld und
Arbeitskräften und die Stockung des Handels
und Absatzes zwangen zu immer größeren
Betriebseinschränkungen, ja zur Stillegung
einzelner Fabrikationszweige. Nicht weniger
betriiblich klingt ein Bericht über die Wiener
Mode aus dem Jahr 1812 in dem in Weimar
erscheinenden Journal des Luxus und der
Mode: „Der diesmalige Modenbericht wird
beinahe kärglich ausfallen; denn der hier
unendlich steigende Geldmangel zwingt alle
Stände zu Einschränkungen, und es bieten
sich in dem sonst so luxuriösen Wien nur
wenige Modeveränderungen dar. Alles; sim-
plihcirt sich. . ." Anschaulich schildert Paul
Mestrozzi, einer der strebsamsten und bald
auch der bedeutendsten Wiener Seidenfabri-
kanten, in seiner Selbstbiographie (jetzt in
der Bibliothek des Österreichischen Museums)
die Lage seines Unternehmens in diesen
schwierigen Jahren. War er über das Kriegs-
jahr 1809 noch recht gut hinweggekommen,
so bezeichnet er den Geldsturz des Jahres 1811
als „ein neues, vorher nicht zu berechnendes
Ungewitter", durch welches ihn „ein Schaden
von 30 000 fl. Einlösungsscheine getroffen hat,
welcher Verlust auch nicht mehr gutzu-
machen möglich war". Zweifellos bedeuteten
diese Jahre eine überaus schwere Belastungs-
probe für Industrie und Gewerbetreibende,
sie vermochten aber die in raschem Aufstieg
begriffene Textilindustrie nur kurzfristig zu
hemmen, aber keineswegs zu brechen. Wie ein
zu Boden gedrückter junger Stamm schnellte
die Produktion überall unmittelbar nach dem
Kriegsende wieder in die Höhe. Sie erlangte
nicht nur ihren früheren Stand, in kürzester
Zeit hatte vor allem die Seidenweberei einen
so hohen Stand und einen derartigen Umfang
angenommen, daß Österreich auf dem euro-
päischen Markt nach Frankreich die zweite
Stelle einnehmen konnte. In den Jahrzehnten
vom Ende der Napoleonischen Kriege bis zur
Mitte des 19. Jahrhunderts bildete XWien den
Mittelpunkt einer blühenden Seidenweberei,
deren Ruf weit über die Grenzen Österreichs
hinausdrang. Seit dem Ende des 18. Jahr-
hunderts hatten die Seidcnfabrikanten ihre
Niederlassungen vor allem in dem damals nur
wenig verbauten Gebiet des Schottcnfeldes
eingerichtet, das bezeichnenderweise für lange
Zeit im Volksmund den Namen „Brillanten-
grund" erhielt. Fabrikanten wie Beiwinkler,
Hcbenstreit, die Brüder Mestrozzi, l-lornbostel,
Fürgantner, Kargl, Gianicelli, Nigri und viele
andere errichteten in den Wiener Vororten
ihre Unternehmen. Schon 1813 betrug die
Zahl der in Wien in der Seidenindustrie
tätigen Menschen 10 O00, im zweiten Jahrzehnt
des 19. Jahrhunderts war diese zum bedeutend-
sten lndustriezweig Österreichs geworden. Bis
zur Mitte des Jahrhunderts, als - den ver-
änderten Verhältnissen entsprechend -- die
Abwanderung der Fabriken in die Provinzen
einsetzte, besaß Wien nach Lyon die größte
und wichtigste Seidenerzeugung in ganz
Europa.
Dieser Aufstieg vollzog sich trotz mancher
innerer Schwierigkeiten, die sich dem Aufbau
großer Unternehmen gerade in Wien selbst
entgegenstellten. Sie waren allerdings nicht
wirtschaftlicher, als vielmehr politischer Art,
da. immer wieder die Zusammenballung großer
Arbeitermassen in der Hauptstadt als gefähr-
lich erachtet wurde, so daß sogar jede Neu-
gründung innerhalb eines Umkreises von zwei
bis sechs Meilen von den Vororten aus unter-
sagt und die Verdrängung der gesamten
lndustrie aus Wien geplant wurde. Dennoch
gelang gerade diesem Gewerbezweig die
Befreiung von allen hemmenden Beschrän-
kungen und damit der erste Schritt zur
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