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Volltext: Alte und Moderne Kunst X (1965 / Heft 81)

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Industrialisierung. Die für die Seidenweberei 
selbst maßgebenden Umstände waren diesem 
Aufbau allerdings äußerst günstig. Seit dem 
Erwerb der oberitalienischen Gebiete stand 
das beste Rohmaterial in Fülle zur Verfügung, 
Österreich war zum größten Seidenprodu- 
zenten Europas geworden. Seit ihrer Nieder- 
lassung hatten zudem viele der großen Seiden- 
fabrikanten sich intensiv um die Verbesserung 
ihrer technischen Einrichtungen bemüht, so 
daß die für die weitere Entwicklung ent- 
scheidende Erfindung des mechanischen Web- 
stuhles, die 1805 dem Franzosen jacquard 
gelang, hier sehr rasch und in großem Umfang 
aufgenommen wurde. Naturgemäß war diese 
ganze Entwicklung darauf gerichtet, im we- 
sentlichen die großen Unternehmen zu fördern 
und sie damit zu einer die einzelnen kleinen 
Meister erdrückenden Vorrangstellung zu er- 
heben. Dies um so mehr, als die großen 
Fabrikanten auch über die Notiahre leichter 
hinwegkommen konnten. So berichtet etwa 
Mestrozzi, daß es ihm möglich war, auch in 
den schlechtesten Jahren weiterzuarbeiten, so 
daß der Wert der Jahresproduktion auf 
1 500 000 H. anstieg, und damit große Vorräte 
zu lagern und sogar die Erzeugung „derley 
besonderer moderner Lyoner Stoffe" neu ein- 
zurichten, „wodurch den Franzosen für den 
Fall als doch bald ein allgemeiner Friede zu 
Stande käme, der Absatz ihrer Erzeugnisse in 
unserem Vaterlande, wo nicht völlig, doch so 
viel möglich verhindert werden sollte". Be- 
sonders erfolgreich erwies sich ein neues 
Appreturverfahren, das es ermöglichte, die so 
iiberaus begehrten feinsten Diinntücher, die 
bisher aus chinesischer Seide gearbeitet worden 
waren, aus der einheimischen, das heißt ita- 
lienischen zu verfertigen. Schon nach kaum 
zwei Monaten waren bei Mestrozzi allein 
70 Stühle und bald noch mehr für diese neue 
Ware eingerichtet, so daß er 2500 bis 3000 Ellen 
in der Woche herstellen konnte. 
Voll Stolz fühlten sich die Wiener Seiden- 
fabrikanren zur Zeit des Kongresses auf allen 
Gebieten konkurrenzfähig und versprachen 
sich mit Recht einen bedeutenden Erfolg ihrer 
Waren bei der hier versammelten internatio- 
nalen Gesellschaft. Dem entsprechend führten 
sie heftige Beschwerde, als sich herausstellte, 
daß in dem Haus der französischen Gesandt- 
schaft heimlich importierte Seidenstoffe im 
Wert von 100 000 Franken wöchentlich ver- 
kauft wurden. Es bedurfte allerdings des 
persönlichen Eingreifens des Kaisers, um 
diesem Handel Einhalt zu gebieten. Daß der 
Kaiser nicht nur den Fabrikanten eine Audienz 
gewährte, sondern sich sogleich persönlich 
ihres Anliegens annahm, hat seinen Grund 
sicher nicht nur in dem etwas heiklen und 
peinlichen Charakter dieser Sache, sondern 
auch in dem großen lnteresse, das gerade 
Franz l. dem Fortschritt und der Entwicklung 
von Industrie und Technik in seinen Ländern 
entgegenbrachte. Die Sammlungen, die be- 
reits im zweiten Jahrzehnt angelegt wurden 
und sowohl Rohmaterialien in allen Stufen 
der Verarbeitung wie auch Muster von fer- 
tigen Stoffen in großer Zahl enthielten, 
zeugen ebenso von dieser lebhaften Be- 
schäftigung mit der Industrie wie die Grün- 
dung der technischen Lehranstalten, die in 
die gleiche Zeit fallen. Da die Fabrikanten 
dazu aufgefordert wurden, Muster aller wich- 
tigen neuen Erzeugnisse einzusenden, gibt die 
bis heute in vielen Hunderten von Muster- 
abschnitten erhaltene Sammlung ein anschau- 
liches Bild von der Vielfalt der gewebten 
und bedruckten Stoffe, der Tafte und Dünn- 
tücher, der Samte und Brokate, der reichen 
Paramenten- und dekorativen Möbel- und 
WandbespannungsstoEe, wie auch der be- 
sonderen modischen Wlaren, wie etwa der 
sogenannte Modefelpel, die Pelzeffekte nach- 
ahmten. 
Den breitesten Raum in der Seidenstoif- 
erzeugung nahmen die für modische Zwecke 
bestimmten Waren ein. In der Damenmode 
bedeutet die Zeit um 1814MB bereits den 
Ausklang der großen Neuerung, die um 1790 
eingesetzt hatte. Die den Ideen des Klassi- 
zismus entsprechende Angleichung der weib- 
lichen Kleidung an späthellenistische Vor- 
bilder, wie die hochgeschlossene, ärmellose 
„chemise grecque" hatte bereits um 1800 
einer wiederum mehr modisch gestalteten 
Linienführung Platz gemacht. Bis gegen 
1818-1820 blieben aber noch die Grundzüge 
dieses in bewußtem Kontrast zur Mode des 
Rokoko geschaffenen Kleiderstiles erhalten. 
Im Gegensatz zu den enggeschnürten Miedern 
mit betonter Taille und ausladenden Röcken 
und den schweren, oft noch versteiften Seiden- 
Stoffen, sollte nun eine „natürliche", den 
Körper weder beengende noch verändernde 
Kleidung die Menschen auch in ihrem äußeren 
Erscheinungsbild dem verherrlichten griechi- 
schen ldeal anpassen. Ohne jede Raffung oder 
Versteifung wurden die Kleider aus leichten 
weißen Materialien gearbeitet, unter der Brust 
angesetzt oder von einem Gürtel zusammen- 
gehalten, Helen sie fast glatt herab, wodurch 
sich eine wenig gegliederte, säulenhafte Sil- 
houette ergab. Bezeichnend ist der Name 
„chemisen" für diese Kleider, die in Schnitt 
und Material tatsächlich langen Hemden 
ähnelten. Weißer Batist, Linon und Baum- 
wollmusselin bildeten die bevorzugten Stoff- 
gattungen, die in ihrer Weichheit und Durch- 
sichtigkeit den Körper kaum verhüllten. So- 
wohl aus ästhetischen wie auch aus rein 
praktischen Gründen mußten die Damen zu 
Trikots ihre Zuflucht nehmen, um diese 
Kleider tragen zu können. Dennoch war ein 
rapides Ansteigen aller Arten von Erkältungs- 
krankheiten die Folge dieser dem nördlichen 
Klima wenig entsprechenden Kleidung, so daß 
man bezeichnenderweise von „Musselinkrank- 
heiten" sprach. Die allmähliche Abwandlung 
der strengen klassizistischen Einfachheit 
brachte vor allem die Dekoration der Stoffe 
und den reicheren Aufputz der Kleider wieder 
in den Vordergrund. Der Weißstickerei, die 
sich in dieser Zeit im reichsten Maß entfaltete, 
boten sich hier große Möglichkeiten und bald 
belebten wieder Rüschen und Besätze Aus- 
schnitt, Ärmel und Rocksaum. Die Weiß- 
stickerei in ihrer höchsten Vollendung hatte 
nicht nur in vielen Belangen das Erbe der 
Spitze, deren große künstlerische Entwicklung 
mit dem Ende des 18. Jahrhunderts zu Ende 
ging, übernommen, sie strebte auch danach, 
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