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Industrialisierung. Die für die Seidenweberei
selbst maßgebenden Umstände waren diesem
Aufbau allerdings äußerst günstig. Seit dem
Erwerb der oberitalienischen Gebiete stand
das beste Rohmaterial in Fülle zur Verfügung,
Österreich war zum größten Seidenprodu-
zenten Europas geworden. Seit ihrer Nieder-
lassung hatten zudem viele der großen Seiden-
fabrikanten sich intensiv um die Verbesserung
ihrer technischen Einrichtungen bemüht, so
daß die für die weitere Entwicklung ent-
scheidende Erfindung des mechanischen Web-
stuhles, die 1805 dem Franzosen jacquard
gelang, hier sehr rasch und in großem Umfang
aufgenommen wurde. Naturgemäß war diese
ganze Entwicklung darauf gerichtet, im we-
sentlichen die großen Unternehmen zu fördern
und sie damit zu einer die einzelnen kleinen
Meister erdrückenden Vorrangstellung zu er-
heben. Dies um so mehr, als die großen
Fabrikanten auch über die Notiahre leichter
hinwegkommen konnten. So berichtet etwa
Mestrozzi, daß es ihm möglich war, auch in
den schlechtesten Jahren weiterzuarbeiten, so
daß der Wert der Jahresproduktion auf
1 500 000 H. anstieg, und damit große Vorräte
zu lagern und sogar die Erzeugung „derley
besonderer moderner Lyoner Stoffe" neu ein-
zurichten, „wodurch den Franzosen für den
Fall als doch bald ein allgemeiner Friede zu
Stande käme, der Absatz ihrer Erzeugnisse in
unserem Vaterlande, wo nicht völlig, doch so
viel möglich verhindert werden sollte". Be-
sonders erfolgreich erwies sich ein neues
Appreturverfahren, das es ermöglichte, die so
iiberaus begehrten feinsten Diinntücher, die
bisher aus chinesischer Seide gearbeitet worden
waren, aus der einheimischen, das heißt ita-
lienischen zu verfertigen. Schon nach kaum
zwei Monaten waren bei Mestrozzi allein
70 Stühle und bald noch mehr für diese neue
Ware eingerichtet, so daß er 2500 bis 3000 Ellen
in der Woche herstellen konnte.
Voll Stolz fühlten sich die Wiener Seiden-
fabrikanren zur Zeit des Kongresses auf allen
Gebieten konkurrenzfähig und versprachen
sich mit Recht einen bedeutenden Erfolg ihrer
Waren bei der hier versammelten internatio-
nalen Gesellschaft. Dem entsprechend führten
sie heftige Beschwerde, als sich herausstellte,
daß in dem Haus der französischen Gesandt-
schaft heimlich importierte Seidenstoffe im
Wert von 100 000 Franken wöchentlich ver-
kauft wurden. Es bedurfte allerdings des
persönlichen Eingreifens des Kaisers, um
diesem Handel Einhalt zu gebieten. Daß der
Kaiser nicht nur den Fabrikanten eine Audienz
gewährte, sondern sich sogleich persönlich
ihres Anliegens annahm, hat seinen Grund
sicher nicht nur in dem etwas heiklen und
peinlichen Charakter dieser Sache, sondern
auch in dem großen lnteresse, das gerade
Franz l. dem Fortschritt und der Entwicklung
von Industrie und Technik in seinen Ländern
entgegenbrachte. Die Sammlungen, die be-
reits im zweiten Jahrzehnt angelegt wurden
und sowohl Rohmaterialien in allen Stufen
der Verarbeitung wie auch Muster von fer-
tigen Stoffen in großer Zahl enthielten,
zeugen ebenso von dieser lebhaften Be-
schäftigung mit der Industrie wie die Grün-
dung der technischen Lehranstalten, die in
die gleiche Zeit fallen. Da die Fabrikanten
dazu aufgefordert wurden, Muster aller wich-
tigen neuen Erzeugnisse einzusenden, gibt die
bis heute in vielen Hunderten von Muster-
abschnitten erhaltene Sammlung ein anschau-
liches Bild von der Vielfalt der gewebten
und bedruckten Stoffe, der Tafte und Dünn-
tücher, der Samte und Brokate, der reichen
Paramenten- und dekorativen Möbel- und
WandbespannungsstoEe, wie auch der be-
sonderen modischen Wlaren, wie etwa der
sogenannte Modefelpel, die Pelzeffekte nach-
ahmten.
Den breitesten Raum in der Seidenstoif-
erzeugung nahmen die für modische Zwecke
bestimmten Waren ein. In der Damenmode
bedeutet die Zeit um 1814MB bereits den
Ausklang der großen Neuerung, die um 1790
eingesetzt hatte. Die den Ideen des Klassi-
zismus entsprechende Angleichung der weib-
lichen Kleidung an späthellenistische Vor-
bilder, wie die hochgeschlossene, ärmellose
„chemise grecque" hatte bereits um 1800
einer wiederum mehr modisch gestalteten
Linienführung Platz gemacht. Bis gegen
1818-1820 blieben aber noch die Grundzüge
dieses in bewußtem Kontrast zur Mode des
Rokoko geschaffenen Kleiderstiles erhalten.
Im Gegensatz zu den enggeschnürten Miedern
mit betonter Taille und ausladenden Röcken
und den schweren, oft noch versteiften Seiden-
Stoffen, sollte nun eine „natürliche", den
Körper weder beengende noch verändernde
Kleidung die Menschen auch in ihrem äußeren
Erscheinungsbild dem verherrlichten griechi-
schen ldeal anpassen. Ohne jede Raffung oder
Versteifung wurden die Kleider aus leichten
weißen Materialien gearbeitet, unter der Brust
angesetzt oder von einem Gürtel zusammen-
gehalten, Helen sie fast glatt herab, wodurch
sich eine wenig gegliederte, säulenhafte Sil-
houette ergab. Bezeichnend ist der Name
„chemisen" für diese Kleider, die in Schnitt
und Material tatsächlich langen Hemden
ähnelten. Weißer Batist, Linon und Baum-
wollmusselin bildeten die bevorzugten Stoff-
gattungen, die in ihrer Weichheit und Durch-
sichtigkeit den Körper kaum verhüllten. So-
wohl aus ästhetischen wie auch aus rein
praktischen Gründen mußten die Damen zu
Trikots ihre Zuflucht nehmen, um diese
Kleider tragen zu können. Dennoch war ein
rapides Ansteigen aller Arten von Erkältungs-
krankheiten die Folge dieser dem nördlichen
Klima wenig entsprechenden Kleidung, so daß
man bezeichnenderweise von „Musselinkrank-
heiten" sprach. Die allmähliche Abwandlung
der strengen klassizistischen Einfachheit
brachte vor allem die Dekoration der Stoffe
und den reicheren Aufputz der Kleider wieder
in den Vordergrund. Der Weißstickerei, die
sich in dieser Zeit im reichsten Maß entfaltete,
boten sich hier große Möglichkeiten und bald
belebten wieder Rüschen und Besätze Aus-
schnitt, Ärmel und Rocksaum. Die Weiß-
stickerei in ihrer höchsten Vollendung hatte
nicht nur in vielen Belangen das Erbe der
Spitze, deren große künstlerische Entwicklung
mit dem Ende des 18. Jahrhunderts zu Ende
ging, übernommen, sie strebte auch danach,
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