Heirzrirb Benedikt
DAS FRIEDENSWERK
DIE EUROPÄISCHE BEDEUTUNG DES WIENER KONGRESSES
Nach den Erfahrungen mit den unseligen
Verträgen, welche den beiden Weltkriegen
unseres Jahrhunderts folgten, muß das Frie-
denswcrk nach der Niederringung Napoleons
als ein W'under der Vernunft erscheinen. Wie
glücklich war das Meisterwerk der Diplomaten,
daß der Kongreß, der es krönte, tanzte und
selbst der Vertreter des nach mehr als zwei
Jahrzehnte dauerndem Kampf besiegten
Frankreichs sein Tanzbein geschwungen hätte,
wäre es nicht lahm gewesen. Der Wiener
Kongreß bietet als Operette der Weltgeschichte
eine Fülle von Unterhaltung. Auf welche
Damen das Auge des schönen Zaren fiel,
wer mit wem zarte Bande knüpfte, die rau-
schenden Feste und die stillen Intrigen ge-
währen der Phantasie einen weiten Spielraum.
Wohl lachten die Wliener über die lustigen
oder komischen Potentaten, bestaunten die
Pariser Toiletten der Damen, die prächtigen
Karossen und edlen Pferde, aber meistens
raunzten sie über die Teuerung, die durch
die Gäste hervorgerufen wurde, und diese
klagten über die mangelhaften Unterkünfte in
der für die vielen Besucher nicht eingerichteten
Stadt, über die Diener, welche sie bewachten
und bestahlen, über Wirte und Kutscher,
welche sie wurzten.
Hinter den Kulissen des prächtigen Aus-
stattungsstückes arbeiteten die Diplomaten an
der Neuordnung Europas, welche während
genau hundert Jahren die Welt von einem
neuen Weltkrieg verschonte. Mehr als die im
Lichterglanz erstrahlenden Ballsäle verdienen
die Konferenzzimmer die Aufmerksamkeit der
Nachwelt auf sich zu ziehen. Vor allem aber
soll die Erinnerung daran festgehalten werden,
wie die verbündeten Sieger das zu ihren
Füßen liegende Frankreich behandelten.
Als der Wiener Kongreß zusammentrat, war
die französische Frage bereits durch den
ersten Pariser Frieden vom 30. Mai 1814
geregelt. Frankreich behielt seine alten Gren-
zen. „Einzig das Haus Bourbon konnte",
wie Talleyrand bemerkte, „die Rachegefühle
abwenden, welche zwanzig Jahre voller Frevel
gegen Frankreich aufgehiuft hatten." Aber
die Demütigung Frankreichs durch seine
Besiegung wurde durch die alliierte Besatzung
verstärkt, wenn auch ihr Auftreten nach dem
Maßstab der Gegenwart äußerst schonend
war. Das leidenschaftliche Verlangen, die
Schande der Unterwerfung und der Besatzung
zu tilgen, hat in den Franzosen jenes patrio-
tische Gefühl der Rache erzeugt, das während
eines Jahrhunderts ein wesentliches Merkmal
ihres Volkscharakters blieb.
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Das Friedenswerk gelang, weil die Staats-
männer, welche die Weltkarte revidierten,
europäisch dachten, der Geist, den ihre Zeit
atmete, vom Begriff der europäischen Einheit
erfüllt und noch nicht vom nationalen Ge-
danken zersetzt war. An der Legitimität der
Regierung Napoleons, die erst mit seiner
Abdankung ein Ende nahm, wurde nicht ge-
zweifelt. Kaiser Franz wies die Bitte der
Venetianer, die seine Untertanen geworden
waren, die Pferde des Markusdoms und den
Markuslöwen nach Venedig zurückzuführen,
ab, weil ihre Entführung nach Paris durch
einen dazu berechtigten legitimen Herrscher
erfolgte.
Über die Kriegsschuldfrage glitt man mühelos
hinweg, indem man Frankreich dem recht-
mäßigen Erben zurückgab, von dem keine
Sühne und erst im zweiten Pariser Frieden
vom 20. November 1815, der auch die Rück-
führung des geraubten Kunstgutes ermög-
lichte, ein Beitrag zu den Kosten seiner Wieder-
einsetzung verlangt wurde. Die Sühne wurde
als innere Angelegenheit angesehen und mit
der Errichtung der Chapelle Expiatoire an
unaufdringlicher Stelle abgetan.
Frankreich blieb drei Jahre von 150.000 Öster-
reichern, Preußen und Russen unter Wellington
besetzt. Unter seinem Vorsitz überwachte die
ständige Botschafterkonferenz der vier Alliier-
ten die Regierung. Sie bildete kein Hemmnis,
sondern eine Stütze der Verwaltung. Im
alliierten Rat Bel die Führung dem russischen
Botschafter Pozzo di Borgo, dem Todfeind
Napoleons und wie dieser ein Korse, zu, denn
das letzte Wort in Paris hatte der Zar zu
sprechen. Ihm zuliebe entließ Ludwig XVIII.
Talleyrand, dem Alexander wegen des Ver-
trags vom 3. Jänner 1815, den Frankreich mit
England und Österreich schloß, um ein
russisches Großpolen zu verhindern, ziirnte,
und ernannte, um eine Milderung der Frie-
densbedingungen zu erreichen, den einstigen
Statthalter von Odessa, Duc de Richelieu, zum
Präsidenten des Ministerrates. Der Allein-
herrscher aller Russen belohnte die Unter-
würfigkeit mit seiner entgegenkommenden
Haltung beim Abschluß des zweiten Pariser
Friedens, in welchem Frankreich nur die Saar
abtreten mußte.
Überall liberal außer in Rußland, schloß Alex-
ander das Bündnis mit der Revolution zur
Schwächung des Westens und zur Erreichung
der Ziele der russischen Expansion. Er gab
sich, wie Gentz an Metternich schrieb, alle
Mühe, Ludwig XVIII. „die revolutionäre
Lehre der Volkssouveränität aufzuzwingen".
Der Zar warf sein Gewicht in die XVaag-
schale der Volksvertretung gegen die Autorität
der Krone. „Toutes les baionettes ettangeres
qui etaient en France se reuniraient pour le
soutien du Senat et de sa Constitution envers
et contre tous." Er zwang dem König die
Charte constitutionelle auf. Metternich nannte
Ludwig XVIII. einen elenden Architekten,
dem das Material des Ancien regime und des
Empire zur Verfügung stand, um den Thron
zu stützen, der aber die Ideen von 1789 wählte
und im Glauben an einen gemäßigten Libera-
lisrnus sich mit republikanischen Einrichtungen
umgab.
Der Weiße Terror, die Verfolgung der Bona-
partisten, ging nicht von der Regierung aus,
sondern von jenem Teil der Bevölkerung, der,
ohne sich je für das Königtum gerührt zu
haben, die Gelegenheit eines Beutezuges
witterte. Als Napoleon den Bellerophon be-
stieg, gab es nur wenige Franzosen, die sich
zu ihm bekannten und nicht vergessen lassen
wollten, daß sie je Vive PEmpereur geschrien
hatten. Der Geist der Verfolgung trieb seine
Opfer zusammen, die, wider ihren Willen zu
Revolutionären oder Bonajaartisten gestempelt,
den Kern einer Opposition bildeten, welche
die Herrschaft der Bourbonen untergrub.
Banden überfielen die Protestanten in Toulouse,
Marseille und Avignon, weniger weil sie in
den Hundert Tagen zum Kaiser hielten, als
weil sie wohlhabende Kaufleute waren, bei
denen es zu plündern gab. In Nimes rettete
der Einmarsch der Österreicher die Protestan-
ten vor der Vernichtung. Beamte wurden
entlassen, weil sie unter Napoleon gedient
hatten, und wurden durch unerfahrene Nie-
mande ersetzt, die als einzigen Bcfähigungs-
nachweis erbrachten, weder unter der Revo-
lution noch unter dem Kaisertum eine An-
stellung erlangt zu haben. Das Ansinnen, den
Grafen von Chabrol, der den Posten des
Seine-Präfekten bekleidete, abzusetzen, wies
Ludwig XVlll. zurück: „Herr von Chabrol
hat sich mit der Stadt Paris vermählt und ich
habe die Scheidung abgeschafft."
Der erste Pariser Frieden vereinigte ungeachtet
der Bitte der belgischen Notabeln, unter
österreichischer Statthalterschaft die tatsäch-
liche Unabhängigkeit zu bewahren, Belgien
mit Holland. Die südlichen Niederlande
standen von 1714 bis 1794 unter der öster-
reichischen llerrschaft. Metternich fiel es
leicht, auf Belgien zu verzichten, dessen Verlust
durch den Gewinn von Venetien und Dal-
matien mehr als ausgeglichen war.