neuen und so umwälzenden Erkenntnisse
im Zeitalter der Gegenreformation sich
in ihren geistigen Schöpfungen, in ihrer
Kunst spiegeln, mußte, um einen bild-
haften Ausdruck zu finden, das gleiche
geistige Koordinatensystem die wissen-
schaftlichen und die künstlerischen Phäno-
mene beherrschen. Der endliche Raum,
der sowohl in der ptolemäischen Astro-
nomie als auch in der euklidischen Geo-
metrie herrschte, mußte nunmehr nicht nur
in dem neuen astronomischen System,
sondern auch im bildnerisch dargestellten
Raum der neuen Erkenntnis von der
Unendlichkeit weichen. Und den neuen
Gesetzen der Mechanik und der Dynamik
war nicht nur die tote Materie der Umwelt
unterstellt, nicht nur folgten die Gestirne
den neuen Bewegungsgesetzen, sondern
auch die Bildmassen wurden in wirbelnde,
exzentrische Bewegungen versetzt. Das
Korrelat zu diesen neuen Erlebnissen wirkte
sich auf der Ebene des Psychischen in
einem sich ins Grenzenlose, im Unend-
lichen verlierenden Gefühl aus, in einer
metaphysischen Unsicherheit, die sich in
„Pathos" ausdrückte.
Nirgends aber mußte diese Erkenntnis
deutlicher in Erscheinung treten als in der
tatsächlichen Raumgestaltung im Bilde;
alle anderen Kompositionselemente, wie
etwa die „offene" Form, die Auflösung
des Massenvolumens, die neue, so sympto-
matische, exzentrische Komposition und
die hektische Licht- und Schattenführung,
alle sind sie letzten Endes von der Struktur
des Bildtaumes bedingt. Eine seiner auf-
fallendsten Charakteristiken ist die stark
betonte Höhenführung. Ging es im Bilde
des Cinquecento horizontal in die Tiefe -
bei geschlossenem, kubischem Raum i,
so geht es jetzt vertikal in die Höhe, was
in einer Zeit, die die Geburtsstunde der
Astronomie als Wissenschaft sah, für die
die Beschäftigung mit der Sternenwelt und
ihren Gesetzen ebenso neu wie aufregend
sein mußte, nur selbstverständlich war. So
ist der Raum, wie ihn der Barock ge-
staltete - in der Architektur wie in seiner
Malerei -, nicht mehr der statische,
kubische und begrenzte Raum der Renais-
sance, sondern ein nach allen Seiten hin
unbegrenzter und wildbewegter Raum. Die
in weiten Schwüngen ausbuchtenden Ge-
bälke der Gebäude, die sich in „höheten"
Kurven überschneidenden Wände - wozu
die Einführung des elliptischen Grund-
rissesm (ungefähr gleichzeitig mit Keplers
Entdeckung der elliptischen Planetenbahn)
beitrug -, der von keinem Rahmen mehr
gezügelte Bildraum, der über jede Grenze
hervorquillt, all diesen Formelementen
stehen die neuen wissenschaftlichen Er-
rungenschaften der Zeit Pate, sind von
ihnen bedingt. In einem Architekturglied
drückt sich diese neuentdeckte Dimension
vielleicht am reinsten aus, wird gleichsam
zu ihrem Symbol: In den monumentalen
Treppenanlagen, die zu den vornehmsten
Bauformen des Barocks werden, deren
künstlerische Möglichkeiten und Ausdrucks-
werte recht eigentlich im Barock erkannt
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werden. In der Renaissance als notwendiges
Übel in dunklen Treppentürmen unter-
gebracht, entfalten sie sich jetzt weit über
das notwendige Maß und usurpieren weit-
gestreckte Raume. Denn nur in diesem
Architekturglied, in den Treppenanlagen,
die sich in weitausholenden Schwüngen
in die Höhe schrauben, ließ sich das
Gefühl der neuerfiihlten Vertikalbewegung
zum Ausdruck bringen und der Aufwärts-
drang an sich symbolisieren 20.
Dieser Grundzug der barocken Raumge-
staltung konnte sich aber prinzipiell nur
auf Kosten der planen, von einem Rahmen
zusammengehaltenen Bildfläche, auf Kosten
des spezifischen Wertes der Malerei ent-
falten. Die gegebene quadratische Bildform,
ihre geometrische, streng symmetrische
Struktur, das unveränderliche Verhältnis
von Rahmen und gerahmter Bildebene, die
allseitig geschlossene Form, all diese dem
Bild a priori innewohnenden Gesetze, ent-
sprachen ihrem Wesen nach nur der gleich-
falls geschlossenen, statischen Raumform
der Klassik.
Denn was bedeutet, wenn man es genauer
analysiert, das klassische Prinzip, das Prinzip
der „Drei Einheiten", das jedem klassischen
Werk zugrunde liegt und wie es zum
erstenma] von Aristoteles formuliert wurde?
Das auf eine Handlung reduzierte Ge-
schehen, das weiterhin auf einen Tag und
einen Raum zusammengezogen wird, be-
deutet nichts weniger als die Aufhebung
des Raumes durch die Aufhebung der Zeit
und der an sie gebundenen Bewegung bzw.
Handlung. Aus dem unendlichen Ablauf
der Zeit einen Augenblick herausprä-
parieren, gleichsam erstarren lassen, die
Zeit ihrer Dynamik, ihres Ohne-Anfang-
und-Ohne-Ende-Seins berauben, heißt sie
aufheben. Denn der Raum - wie die
Zeit f sind an sich Bewegung und sind
grenzenlos. So bedeuten die „Drei Ein-
heiten": die Einheit von Zeit, Raum und
Handlung, soviel wie keine Zeit, keinen
Raum und waren daher und in diesem
Sinne den bildenden Künsten zutiefst we-
sensgemäß. Das Transportieren der Ge-
stalten aber, die der lebendigen, bewegten
Umwelt angehörtcn, in die zeit- und taum-
lose XVelt des Bildes bedingte eine Um-
organisation sowohl der Handlung als auch
der Gesten. Und so schafft jede „klassische"
Kunst eine neue statische Zeit-Raum-
Kategorie, spannungslos, bewegungslos,
eine Idealwelt, deren Gesetzen ebenso die
Gestalten von Olympia wie auch Pieros
Figuren in den Fresken von Arezzo oder
die Geschöpfe Poussins angehören.
So mußte sich in der Malerei des Barocks
ein Dilemma ergeben, das aus der prinzi-
piellen Inkommensurabilität zwischen den
Forderungen der Zeit und den Gesetzen
der Malerei erwuchs. Wir wissen, daß es
dieses Dilemma gab und daß seine Lösung
nicht selten auf Kosten der Malerei ge-
schah, dort aber, wo es bewältigt wurde,
die großartigen Werke einzelner Maler-
genies entstanden.
Wie aber sollte sich dieses Dilemma in
einem Kulturkreis auswirken, wie sollte es
in Holland gelöst werden, dessen Kultur
„so einflußreich sie auch außerhalb des
Landes wurde, nicht den ausgebildeten
Typus des Zeitalters im allgemeinen dar-
stellt, sondern in wichtigen Punkten von
der allgemeinen europäischen Prägung des
17. Jahrhunderts abweichNZl. Wie aber
vor allem sollte es von einer Malerper-
sönlichkeit wie Vermeer, der so ausschließ-
lich Maler war, daß einzig die Gesetze der
Malerei für ihn Geltung hatten, bewältigt
werden? So mußte sich in seinem Werk
eine künstlerische Problematik ganz be-
sonderer Art ergeben, hier mußte die
Verbindung zwischen unvereinbaren Grö-
ßen, wie die barocke Forderung des un-
endlichen Raumes und der geschlossenen,
endlichen Welt des Bildes eine einzigartige
Lösung, eine Lösung sui generis er-
geben.
Von den knapp vierzig Werken, die uns
von Vermeer gesichert sind, zeigen nur
die Frühwerke den geläufigen barocken
Raumaufbau. Es sind dies „Christus im
Hause der Maria und Martha" (National
Gallery in Edinburgh), die „Kupplerin"
(Gemäldegalerie, Dresden) und schließlich
die „Diana" (Mauritshuis, Den Haag).
Nach diesen Werken, die sich dem Zeitstil
angleichen, gab Vermeer die barocke
Diagonalkomposition, die animierten Men-
schengruppen und vor allem die offene
Raumform auf. Von nun an wiederholte
der Künstler mit einer geradezu an Mono-
tonie grenzenden Gleichförmigkeit, fast
ohne jede Variation, das gleiche Raum-
thema: den denkbar kleinsten Raumaus-
schnitt, in den er die Figuren 7 eine bis
drei, nie aber mehr 7 einbauen konnte.
Eine Zimmerecke, von zwei Wländen be-
grenzt, an die die Figuren so nah als
möglich herangcrückt sind; Während die
andere, seitliche und vordere Raumgrenze
durch gleichfalls nah aneinandergerückte
Möbelstücke gegeben ist. Wie die Wände,
so sind auch oft die Möbel mit der Bild-
ebene parallel. So der häufig wiederkeh-
rende Tisch, das Spinett und der Wand-
schrank. Der so entstandene Raumaus-
schnitt hat eine gewisse Verwandtschaft
mit dem ebenfalls allseitig geschlossenen,
kubischen Bildraum der Renaissance. Die
menschliche Figur ihrerseits, meist senk-
recht in den Raum gestellt, weicht sehr
selten von dieser Haltung ab. Der ortho-
gonale Aufbau innerhalb des Bildraumes 7
und zugleich der Bildfläche 7 wird also
mit allem Nachdruck betont und unter-
stützt das raumabschließende Prinzip des
Rahmens. Deutlich wird dies zum Beispiel
in dem Bild „Das Gäßchen" (Riiksmuseum,
Amsterdam), wo außer den Dachschrägen in
der linkenßildhälfte ausschließlich Horizon-
tale und Vertikale verwendet sind. In
diesem orthogonalen Bildaufbau, der die
Mallläche gliedert und zugleich stabili-
siert, ihr ein festes Gerüst gibt und vor
allem den Rahmen betont, sind auf dis-
krete Weise einige Elemente als Raum-
schieber eingebaut: ein Sessel, der über-
eck steht, ein am Boden wie zufällig
liegengebliebenes Musikinstrument, un-