Jiii Vcrmeet, Die Bricflcserin, um 1057 lßlnwänd,
253x645 cm. um: einer sigimui. Slililllirllü Gemälde-
gnlerie, Dresden
NIMERKUNGEN 19 7 .2
So erkennt auch Wolfgang Lolz, Die ovalen Kirchen-
räume. Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte, 1'755,
Bd. Vll. den Zusammenhang zwischen wissenschaftlichen:
Erkenntnissen und Formen der bildenden Kunst und
meint: „Es bedürlle eingehender Studien von seilen der
Mathematik und der Kunstgeschichte, um zu erklären.
ob die architektonische Entwicklung mit der Geometrie
im kausalen Zusammenhang steht oder ub nicht vielmehr
beide Phänomene aus der gemeinsamen. Tut die Zeit
charakteristischen Bevorzugung nbstrnktur. d.li. nicht
nnthtopomorpher GmntlfDfmCn zu Ctklifkth ist
Die oben von um gestellte Frage nach im Beziehung
von Mathematik und Kunst hat Wilhelm Finder beant-
wortet: „Dazu gehört der Rat, immer wieder zu fragen
bei jedem Kunstwerk, bei jedem Stil, bu jedem Meister:
Was für eine Mathematik steht eigentlich hinter die m
Stil? Steht 2.13. hinter Rubens und hinter dem Spit-
barock. hinter der großartigen der (sähen Architektur
des Spätbarocks Balthasnr Neumnnns r. w sehr vcrwickßltr
hohem Mathematik. eine (äcmnclri hinrcr der im letzten
Grund wohl die Zahl "Unendlich" stehen mag? Und
hinter dem Klassizismus oder hinter der späten Kunst
des siebzchntcn Jlhrhllhdtrlß (VCHUIICK) steht eine niedere
Gcornctrie, Frage: W15 ist 1135 Ergebnis} Feststellung!
Überall, wo FOIYHCII dßf HiCdLTCh (Ecumcrric verwendet
werden, tritt bei uns dcr Eindruck der Ruhe. der Dauer.
des Zuständlichcn. ja unrtr Ulnsrindm auch des Ewig-
kritlichcn, dcs Ewigen ein (ägyptixchc Pyramiden). Über-
all da, wo mit lnfinitesimalrcclinung gearbeitet wird, mit
Hypßrbtin, Parabcln und schwer zu IJCZCiCIIIICIIÖCH gro-
metrischen Einzclfonncn höherer Ordnung. d: entsteht
in uns der Eindruck einer unrcr Umständcn leidenschaft-
liehen Bcwcgthcit. jtdtnfilis cincr Iltigllng des
Räumlichen und Kbrpcrlirhen zum Zut ithcn, Und die
Frage nach dem Vermicht "x vnn Raum und Zeit in
dcr Kunstwisscnschafr ist mir . . . wichrig."
H J. Huizinga. Holländische Kllilur des Sichzehnttn Jihr-
lgugderts, ihre soziale und nztionnlc Eigenart. JCIIJ 1933.
m; otfene. pcrspcklivisch gcwcirctv [kaum ist z. u. bei
Hobhemz: Die Alice von Middrclharnia". in einer für
die Zeit writ rharakrznxrisrhcrcn Farm zufgcfnßr.
seiieiiiouu. vcisatzstucnc WAL r i-unuuuxu,
ein Besen oder eine Kaffeemühle. Sie
figurieren, ähnlich wie breitschwingende
Faltenziige an Tischdecken, als Raum-
schieber. Doch sind diese schriiggestellten
Gebilde im Vergleich mit den zur Bild-
ebene parallelen mit größter Zurückhaltung
behandelt, den Hauptakzent der Kompo-
sition tragen die Orthogonalen, die nicht
oft genug in den Fensterrahmen, Bild-
rahmen und Wandschränken, die parallel
zur Bildebene stehen, betont werden kön-
nen. Der Bildaufbau bei Vermeer ist also,
wie man sieht, weit entfernt von dem des
Barocks. Tatsächlich ist der Raum so
undynamisch, so unbewegt wie möglich,
und nirgends wird der Rahmen „gesprengfh
lm Gegenteil: er wird durch die so häufig
verwendeten Horizontalen und Vertikalen,
an denen sich Vermeer nicht genug tun
kann, immer wieder versteift und gefestigt.
So ist der Bildraum bei Vermeer niemals
Teil des unendlichen Raumes, dessen
Dynamik in ihm weiterwirkt, niemals
birst unter seiner Macht das rahmende
Gefüge. Es handelt sich im Gegenteil um
eine sorgfältig konstruierte, geschlossene
und in sich ruhende Raumzelle.
Dem umschließenden Raumsystem ent-
spricht der innere Gehalt der Handlung
eines Vermeefschen Bildes. Kann man
hier überhaupt noch von Handlungen
sprechen, Handlungen, die im Barock nie
genug dramatisch, nie bewegt genug sein
können?
Es handelt sich bei Vermeer vielmehr um
Attitiiden, um Zustände, jene Art von
Handlungen, denen etwas Langanhalten-
des, ein gleichförmiger Rhythmus ohne
jähen Anfang oder Ende innewohnt. Die
Bewegungen sind auch nicht Ausdruck
eines Affektes, sind von keiner stürmischen
Gemütswallung diktiert. Es sind altge-
wohnte, oft wiederholte Bewegungen des
Alltags, die mit der Zeit etwas fast Auto-
matisches bekommen haben und die man
gleichsam geistesabwesend ausführen kann.
Sie fordern keine große Muskelanstrengung,
sie rollen sich langsam ab, haben etwas
Zeitlupenhaftes und Entspanntes. Die Ge-
schöpfe Vermeers schreiben, lesen, musi-
zieren, gehen häuslichen Beschäftigungen
nach; oft und gern klöppcln sie, und der
schmale kunstvolle Streifen, der langsam
unter der Hand der Klöpplerin entsteht,
ist wie der sichtbar gewordene langsame
Ablauf der Zeit, den die Klöpplerin zum
Verfertigcn gebraucht hat.
So scheint eine rein äußerliche Analyse
der Werke Vermeers ihn in seiner Zeit
zu isolieren, und seine Werke scheinen dem
Zeitgeschmack, den stilistischen Forde-
rungen der Zeit nicht Rechnung zu tragen.
Tatsächlich aber fehlt nur die äußere, die
rauschende Aufmachung des Barocks, die
die Niederlande, Vermeer aber ganz be-
sonders, abgelehnt haben 22. Den transzen-
denten Gehalt der Zeit, ihr neues Welt-
bild, das neue XVelterlebnis, die viel tiefer
und geheimnisvoller dem Zeitgeist an-
hafteten, hat Vermeer erfaßt und hat sich
ihm nicht entziehen können. Mehr noch:
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