3 Jan Vcrmtcr, Stehende Dame am spmw. um 1670.
Leinwand, 50x45 cm. Bezeichnet: 1 v Mecr. Nnlional
Gallery, London
ANMERKUNGEN 23 - 27
11 In letzter 2m m „Im Atelierbild" von Vcrmccr m zwci
Arbeiten zuf m": Bedeutung um untersucht worden.
Hans Sedlmayr (in: "Kunst und Wnhrhci n 19524) hat
die schon von Origenes angewendet: „d fache" m.
(man benutzt und so auch in Vermeers „Awuw- L-aum
wörtlichen (rnlislischen), einen allegorischen und Bill"!
dritlcn. spirituellm Bildsinn zu finden gcglaubt, Hirse
fast überzeugende lulcrprcizrion wurde von Run Budi.
Modell und Malcr von Jan Vemicer. Köln 1961, auf
Grund sachlicher Fakicn widerlegt. Die Srreirschrift
Dzdrs zeigt deutlich. wie gefährlich Sedlmayis Vorgehen
m und wie leicht eine gewiss: pathetisch: Furmulicruni:
an Stelle sachlicher Fakten irrcfiihrcn kann.
Giselc Bzälcl, Blhüliqu t crüntion musicalc. Paris 1947.
hat diesem Phänomen eine eigene Arbciz gewidmet.
Erwin Panofsky, Mcnning in (h: visual Arrs. New York
1955. S. 168.
Andrö Mnlraux. Lcs Vuix du silcnce. Paris 1951. I 474.
Es sei in dicscm Zusammenhang erinnert. daß sich Des-
rartcs zwanzig juliru. vnu 1629 bis 1649, in Holland auf-
gehalten hal und dnll xcinr: Gegenwart der hühercn Klassc
der "lntclligcntsia" kaum unbekannt gewesen sein dürfte.
befinden sich zwei, der „Geograph" (Stae-
delsche Kunstsammlung, Frankfurt) und
der „Astronom" (ehem. Sammlung Roth-
schild, Paris), die diesen Gedankengängen,
die in den Bildern Vermeers, wenn auch zum
Teil verborgen, zu liegen scheinen, eine
endgültige Bestätigung geben. Sie stellen
nämlich jene Menschen dar, die gerade
mit diesen Problemen und Fragen, auf die
es uns in diesem Zusammenhang ankommt,
beschäftigt sind. Die Wahl des Sujets
bestätigt auch, daß diese Fragen nicht nur
„in der Luft lagen", sondern daß sie Ver-
meer persönlich nicht fremd waren, ihm
persönlich nahegelegen sein mußten. Beide
Bilder dürften aus der gleichen Zeit stam-
men (der „Astronom" ist datiert und
stammt aus dem Jahre 1668). Der Bild-
aufbau ist in beiden sehr ähnlich und auch
der innere Gehalt zeigt eine auffallende
Übereinstimmung. ln beiden Bildern ist
es die gleiche Zimmerecke, mit dem Fenster
auf der linken Bildseite, dem Wandschrank
im Hintergrund, dem vom Bildrahmen
iiberschnittenen Gemälde in der rechten
Bildseite und schließlich dem vor das
Fenster, aus dem helles Licht strömt,
gerückten Tisch. Beide Gelehrte sind über
ihre Arbeit gebeugt. Eingeklemmt zwischen
schweren Möbelstücken, in der Enge des
geschlossenen Raumes, das Gesicht dem
Fenster zugewandt, umgeben von Globen,
Landkarten und Meßinstrumenten, ist ihr
Geist mit dem Erdenraum, ia mit dem
Weltraum beschäftigt. Die Geste, mit der
der Astronom die Hand auf den Globus
legt, ist wie eine Besitzergreifung, Symbol
der geistigen Besitzergreifung, die dank
der neuen wissenschaftlichen Methoden
damals vorgenommen wurde. Beide Bilder
sind eine Bestätigung, daß die brennenden
Zeitfragen der Astronomie auch Verrneer
berührt haben, daß ihm ihre revolutio-
nierenden Entdeckungen, die Erkenntnis
der Unendlichkeit und das allgemeine
Prinzip der Dynamik vielleicht nicht unbe-
kannt waren. Raumprobleme mußten den
Künstler aber besonders interessieren. Beide
Bilder exemplilizicren, wie Vermeer das
neuentdeckte Konzept der Unendlichkeit
mit Formfragen der Malerei in Einklang
zu bringen versucht hat.
Hat der Alaler Vermeer das Grundgesetz
der Malerei, das Gesetz des statischen
Bildaufbaues, der planen begrenzten Mal-
Bäche immer gewahrt, die Geschlossenheit
des gerahmten Ausschnittes nie preisge-
geben, sondern iene Zeit- und Raumlosig-
keit gewahrt, die seinem Werk seine
„Klassik" gibt, so hat der Denker Vermeer
die von Zeit und ihrem Stil geforderte
Raumdynamik, die Unendlichkeit durch den
Umweg über die Allusion und das Symbol
wiedergegeben. Nicht das „Flamb0yante"
des Barocks, nicht seine „maniera grande",
nicht den rauschenden Raum, sondern einen
Raum, den Vermeer wie Descartes 17 durch
Symbole und Gleichungen ausdrückt, die
seine unmeßbare Weite, wie sie die Mathe-
matik und Astronomie damals erkannt
haben, deutlicher und vielleicht auch reiner
zum Ausdruck bringen.
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