DIE VIELFALT DER BILDENDEN
KUNST IN DER WELT VON
HEUTE
lnauguraäionsrede des Hochschulprofessors
Archifek? ERNST A. PLISCHKE, Rektor der Akade-
mie der bildenden Künsle in Wien, gehalien am
24. November 1965
Ich darf wohl gestehen, daß der Anlaß und die
Ehre. die ein solcher Tag bedeutet. mich tief
bewegen. Dies um so mehr, als das Vertrauen,
das die Wahl zu diesem hohen Amt beinhaltet.
so bald nach meiner Rückkehr in die Heimat er-
folgte.
Es ist nur zu natürlich. wenn bei einem solchen
Anlaß die Gedanken dorthin zurückgehen, wo
mein bewegtes und reiches Leben seinen Ausgang
nahm, nämlich zu unserer Akademie. Für mich.
als ein Produkt dieser Akademie. ist ein solcher
Rückblick eng verbunden mit ihrer damaligen
Atmosphäre und mit meinen persönlichen Er-
innerungen an diese entscheidenden Jahre eines
jungen Menschen, Ich möchte mir deshalb erlauben.
an Stelle einer programmatischen Rede, wie man
sie für einen solchen Amtsantritt erwartet. einfach
zurückzudenken, wie ich die Dinge gesehen habe
und wiesiemich bewegthabemEswäre undankbar.
wenn ein solcher Rückblick irgend etwas anderes
als ein Rückblick in großer Dankbarkeit wäre.
Wie immer unsagbar schwer die Jahre nach dem
Zusammenbruch von 1918 waren 7 ein uner-
hörter Wille ZJ einem neuen Beginn war die vor-
herrschende Stimmung jener Jahre. Dieser Wille
war der Ausgangspunkt für alles, was damals ge-
dacht und geplant wurde. Wo immer die einzelnen
standen, sie taten ihr Bestes im Sinn eines neuen
Beginnens, und so war es auch hier an unserer
Akademie.
Was sich aber bei einem solchen Rückblick dem
Beschauer vor heute am stärksten aufdrängl und
oft verwirrend wirkt, ist der tiefe Wandel der
Ausdrucksformen in der Kunst, der in den Jahren
seit damals vor sich gegangen ist. Unwillkürlich
drängt sich bei einer oft entgegengesetzten Viel-
falt die Frage nach Wertmaßstäben und nach
einer Gemeinsamkeit in all der Vielfalt auf.
Ich möchte Sie. meine sehr geehrten Damen und
Herren. deshalb bitten, mir zu erlauben, vorerst
einen kurzen Rückblick aufdie geistige Atmosphäre
auf dem Gebiete der Architektur zu geben, wie
ich sie als Student vorgefunden habe.
Mit der unerhörten Entwicklung der technischen
Mittel vor und besonders nach dern ersten Weltkrieg
wurde eine geistige Atmosphäre geschaffen, in
der für eine lebendige neue Architektur kein
Platz mehr zu sein schien. Bezeichnend für die
Stimmung von damals war vielleicht die Äußerung
von Giedion, daß der Genius der Architektur
aus den Ateliers der Architekten in die Konstruk-
tionsbüros der lngenieure übersiedelt sei. Giedion
dachte dabei an die hervorragenden Ingenieur-
bauten eines Maillart. Freyssinet oder an Albert
Kahns Bauten für Henry Ford. Um aber zu der
Direktheit und Unmittelbarkeit solcher guter
lngenieurbauten auch im allgemeinen Bauen zu
kommen. war es damals vorerst das wichtigste,
den Eklektizismus oder Historizismus jeder Art
und Prägung zu überwinden und aus den modernen
technischen und sozialen Bedingungen heraus
eine klare und zeitgemäße Formensprache zu
begründen und zu entwickelmEine Formensprache,
die uns letzten Endes wieder die Möglichkeit
geben sollte. ohne Affektation und Kostümierung
Wesentliches auszudrücken und zu gestalten. Wenn
es dabei auch oft nur bei Formen blieb, noch ohne
einen wesentlichen architektonischen Inhalt. so
war doch damit ein Anfang gemacht. Das Resultat
dieser Haltung finden wir in den Bauten der
..Neuen Sachlichkeit". Diese neue Sachlichkeit
wollte keine Architektur. sondern zeitgemäßes
"Bauen". Das Wort Architektur galt hier als
verdächtig und verstaubt. Die junge Bewegung
wurde aber damals von vielen rein utilitaristisch
verstanden. und diese Auffassung ist auch heute
noch sehr weit verbreitet. Nur wenige wollten
darüber hinaus zu einer zeitgemäßen wirklichen
Architektur. Als Voraussetzung hiefür wollten
diese wenigen eine moderne Bautradition ent-
wickeln. genauso, wie es auch im Biedermeier
eine für damals zeitgemäße Bautradition gegeben
hat. Es wäre deshalb vielleicht gar nicht so falsch,
im Gegensatz zu der "Neuen Sachlichkeit" auch
von einer ..Alten Sachlichkeit" zu sprechen. Dies
wird deutlich. wenn wir an die Bemühungen eines
Tessenow oder unseres verehrten Prof. Holz-
meister denken. Sie haben versucht, die gute und
gesunde Bautradition der Vorindustriellenzeit
von der wilden Dekoration der neunziger Jahre
zu reinigen. Sie wollten dieselbe Direktheit und
Unmittelbarkeit mit den traditionellen Baumetho-
den erreichen wie die Neue Sachlichkeit mit den
modernen Baukonstruktionen. In diesem Zu-
sammenhang möchte ich nicht die Gelegenheit
vorübergehen lassen. diese so weittragenden
Bemühungen um die Wiederbelebung der .,Alten
Sachlichkeit" mit Dankbarkeit zu würdigen;
denn. wenn man heute durch die österreichische
Landschaft und ihre Städte reist. so kann man
allerorten mit beglückender Freude die Wirkung
und die Früchte dieses lebenslangen Bemühens
von Prof. Holzmeister und seiner Schule sehen.
Nur diese Wiederbelebung des Verständnisses für
die Sachlichkeit in unserer alten Bautradition
ermöglichte die Wiederherstellung vieler alter
Bauten und das Einfügen mancher neuer Bauten
in historische Städtebilder mit wirklichem Fein-
gefühl und Takt.
Aber so manchen von uns jungen Architekten
hatte damals eine tiefe und starke Begeisterung
für die lngenieurbauten unserer Zeit ergriffen.
Sie war als Reaktion gegen den herrschenden
Eklektizismus. wie den eines Östberg oder Asplund
in Schweden. nur zu verständlich.
Die Begeisterung für die modernen Baukon-
struktionen war auch bei rnir der Grund. warum
ich als erstes nach der Staatsprüfung um ein Visum
für eine Auswanderung nach New York ein-
reichte. Diese mehr oder weniger unglückliche
Liebe von Architekten für den lngenieurbau
führte zuerst 7 wie bei Mendelssohn W zu einer
theatralischen Romantik. Bei schwächeren Leistun-
gen führte sie zu einem reinen Maschinenforrna-
lismus. Je mehr ein Sessel einer komplizierten
Maschine ähnlich sah. für um so besser galt der
Entwurf. Die Überwindung der Maschinenroman-
tik und ihrer formalistischen Übertragung auf
Gebrauchsgegenstände und Bauten, die gar nichts
mit Maschinen zu tun haben. kam von einer ganz
anderen Seite.
Wir versuchten nämlich damals mit rein kubischen
Formen und Elementen Räume und Baukörper
zu gestalten, die vollkommen frei und aufgelöst
jedes Gefühl der Schwere und jede Monumentalität
überwinden wollten. Eine freie Durchdringung
von Form und Raum sollte unsere engen vierWände
sprengen und zu einem reichen dreidimensionalen
Raumkonzept führen. Durch die bewuBte Ein-
beziehung des Weges als Bewegung und Ablauf
von Eindrücken sollte das Element der Zeit als
eine neue Komponente zur 4. Dimension unserer
neuen Architektur werden. Namen wie Doesburg.
Rietveld oder Kiesler weisen die Richtung. von
der ich spreche. Langsam aber wurden mit der
gewonnenen Freiheit .,die vollkommen aufge-
lösten Formen und Durchdringungen" wieder
straffer und kontrollierter und damit einfacher.
Diese Einfachheit führte mich 1930 zur tiefsten
Bewunderung für die Poesie des japanischen
Wohnhauses. dessen Einfachheit wohl kaum mehr
mit der Primitivität der neuen Sachlichkeit von
damals etwas zu tun hatte. Wir finden dort eine
in Jahrhunderten entwickelte Konstruktion von
unerhärter Reife und Schönheit mit den zartest
entwickelten Details für alle Elemente des
Hauses, ein überaus feines Gefühl für Material
und schließlich ein unvergleichliches ineinander-
fließen von Wohnraum und Garten. Neben alldem
ist unsere bürgerliche Bautradition des Bieder-
meier bäuerlich plump und primitiv.
Meine Bewunderung für die Konstruktion des
japanischen Hauses führte mich zur Entdeckung
der Bauplastik in den japanischen und chinesischen
Großbauten und dann zu den indischen Tempeln.
Wer einmal die unerhörte Bciuplastik chinesischer
Holzkonslruktionen erfaßt hatte, der konnte nicht
mehr zurück zur ,.Neuen Sachlichkeit" und sie
als "die" kommende moderne Architektur an-
sehen.
Es ist meiner Ansicht nach vollkommen unmöglich,
auf die Dauer einen wesentlichen Teil unseres
künstlerischen. kulturellen Erbes zu ignorieren.
ohne dadurch eine geistige Verkümmerung und
Verarmung zu erleiden. Für das Europa mit der
Kultur der Gegenreformation ist es auf die Dauer
45