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Volltext: Alte und Moderne Kunst XI (1966 / Heft 88)

Georg Rözsa 
DIE ALLEGORIE DER 
UNGARISCHEN AKADEMIE 
DER WISSENSCHAFTENü 
JOHANN ENDER UND 
ISTVÄN SZECHENYI 
Die Gründung der Ungarischen Akademie 
der Wissenschaften im Jahre 1825 war nicht 
einem großzügigen Herrscherentschluß, 
sondern den Schenkungen der fortschritt- 
lichen Magnaten-Teilnehrner des Preß- 
burger Landtages zu danken. Aus der 
relativ großen finanziellen Selbständig- 
keit folgten freiere Organisationsmöglich- 
keiten, deren Ergebnisse sich nicht nur in 
der Entfaltung der Wissenschaften im 
engeren Sinne, sondern auch in der Ent- 
wicklung der ungarischen Sprache und 
Literatur zeigten. Der Anreger des großen 
patriotischen Eifers, Graf Istvän Szechenyi 
(1791-1860), eine führende Persönlichkeit 
des ungarischen Vormärz, des sogenannten 
Reformzeitalters, bot 60 O90 Gulden für die 
Zwecke einer „ungarischen wissenschaft- 
lichen Gesellschaft" an und hatte damit den 
ersten Schritt auf seiner öffentlichen, poli- 
tischen Laufbahn getan. Eine vielseitige 
Bildung und reiche, auf langen Reisen 
gewonnene persönliche Erfahrung rich- 
teten sein Augenmerk auf die Rückständig- 
keit seines Vaterlandes und veranlaßten ihn, 
die Vorbereitungen für eine grundlegende 
Umgestaltung durch Wirtschaftliche Re- 
formen zu beschleunigen. Auch sein grund- 
sätzlicher politischer Gegner, der spätere 
Führer der Revolution von 1848, Lajos 
Kossuth, nannte ihn am Anfang der 
vierziger Jahre den „größten Ungarn". 
Als einer ihrer Begründer nahm Szechenyi 
regen Anteil an der Ausbildung der neuen 
wissenschaftlichen Institution. Neben der 
Mitarbeit an den Statuten proponierte er 
die Devise „Borura derü" (Auf Regen 
folgt Sonnenschein) und das Konzept einer 
die Aufgaben der Akademie spiegelnden 
Allegorie. Diese wurde von Künstlern, 
die Szechenyi auswählte, für verschiedene 
Zwecke in verschiedenen Formen ausge- 
führt. Im jahre 1832 waren das Siegel und 
eine Stahlstichvignette fertig, die für das 
Titelblatt der jahrbücher und für die 
Mitgliedschaftsbriefe der Akademie ver- 
wendet wurde. Im ]ahre1834 schenkte er 
der neuen Institution ein großes Ölgemälde 
gleichen Themas, das noch heute in dem 
von August Stüler (IBOOAISGS) entwor- 
fenen und im Jahre 1865 eröffneten Ge- 
bäude der Akademie hängtl. 
Alle drei Varianten der Allegorie - das 
Siegel, die Vignette und das Ölgemälde 7 
drücken durch die Gestalt einer jungen 
Frau, die sich auf einen Schild stützt 
und einen in der Luft schwebenden Adler 
tränkt, denselben Inhalt aus. Die Stellung 
und die Gewandung der Frauenl-igur 
sowie die Einzelheiten des Hintergrundes 
weichen jedoch auf den drei Varianten 
voneinander ab. 
Das fein gearbeitete, stark antikisierende 
Siegel ist das Werk des Wiener Graveur- 
Professors Luigi Pichler (1773-1854) 2. 
Diese Variante differiert - teils wegen der 
technischen Voraussetzungen - am meisten 
von den zwei anderen. Das Standmoment 
ist wegen des Überkreuzens der Beine und 
der Biegung des Oberkörpers nach rechts 
ziemlich unsicher. Ihren Kopf schmückt 
eine Krone, über ihrem Hemd trägt sie 
einen Brustharnisch, das über ihre linke 
Schulter geworfene Tuch flattert im Winde. 
In ihrer linken Hand hält sie einen Schild 
mit dem ungarischen Wappen und der 
Königskrone. Sie tränkt aus einem in 
ihrer rechten Hand gehaltenen Becher 
einen Adler, der im leeren Hintergrund 
über ihr schwebt. 
 
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Der Stahlstich stammt von dem viel be- 
schäftigten Stecher Franz Xaver Stöber 
(1795-1858) nach einer Zeichnung von 
Johann Ender (1793-1854), dem geschätz- 
ten Meister des Wiener BiedermeierJ. 
Hier kommt die Frontalität der Frauen- 
gestalt stärker zum Ausdruck. Das Körper- 
gewicht lastet auf dem rechten Bein, der 
Blick richtet sich auf den trinkenden 
Adler. Das ungarische Wappen steht ohne 
Krone auf dem Schilde. Rechts schlängelt 
sich ein Fluß durch ein gebirgiges Tal, 
links 7 zur Vervollständigung der roman- 
tischen Wirkung - dräut ein Gewitter und 
schlägt eben ein Blitz ein. 
Die dritte und spätere Variante 4, das große 
Ölgemälde Enders, ist mit dem Stahlstich 
verwandt, ihre Komposition ist aber weiter 
entwickelt. Der Kopf der Frauengestalt ist 
mit Lorbeer bekränzt, der Brustharnisch 
fehlt. In der Mitte des Schildes, der die 
meisten Veränderungen zeigt, enthüllt Pallas 
Athene den Kopf einer sitzenden Hungaria- 
Figur. Unten ist die Devise mit der jahres- 
zahl 1831 zu lesen, das Jahr, in dem die 
Akademie wirklich zu funktionieren begann. 
Am Rande des Schildes ist die Begegnung 
Leos l. mit Attila in reliefartiger, mono- 
chromer Bearbeitung nach der Vorlage 
des vatikanischen Freskos Raffaels darge- 
stellt. Durch die Weglassung der über- 
irdischen Teilnehmer der Szene verlieren 
aber die hinaufweisenden Gebärden ihren 
Sinn. Verschwunden sind die strengen 
Züge der Frauengestalt sowie das roman- 
tische Blitzmotiv; hinter dem großen 
Adler aber erscheint ein zweiter, kleinerer. 
Die junge Frau mit dem Adler stellt zweifels- 
ohne Hebe dar, obwohl diese Tatsache 
interessanterweise weder von Szechenyi, 
der die Allegorie konzipierte, noch von 
den späteren Kommentatoren bisher aus- 
gesprochen wurde. Nur der an Stelle des 
Kruges angebrachte Schild paßt nicht für 
die Göttin der Jugend. Er ist aber das 
geeignetste Mittel, um die nationale Zuge- 
hörigkeit der symbolisierten Institution zu 
kennzeichnen. Hebe war ein sehr beliebtes 
Thema der Malerei und Skulptur im 18. 
und 19. Jahrhundert. Es eignete sich vor- 
züglich für Porträts in mythologischem 
Kostüm, denn eine solche Wiedergabe 
bedeutete weder für den Maler noch für 
das Modell eine mühevolle Aufgabe. Es 
erfreute sich vor allem in England großer 
Volkstümlichkeiti Aus der Übersicht der 
Hebe-Darstellung ergibt sich, daß die 
nächsten Parallelen zu der Komposition 
der Allegorie der Ungarischen Akademie 
der Wissenschaften in einem Porträt der 
Lady Stafford, geb. Frances Henrietta 
Jerningham von John Hoppner (1758 bis 
1810), zu nnden sind. Das Bild war im 
Jahre 1805 in der Royal Academy ausge- 
stellt und wurde 1809 durch Henry Meyer 
("f 1847) in Punktiermanier reproduziertö. 
Die enge Verwandtschaft der ungarischen 
Allegorie mit dem englischen Bildnis 
kann nicht zufällig sein. Szechenyi, der 
mehrere Male England besuchte, mußte 
entweder Hoppners Gemälde gesehen oder 
seine Reproduktion erworben haben. 
Die Allegorie hat aber in den zeitgenössi- 
schen und späteren Kommentaren nicht 
nur diese mythologische BedeutungV. Nach 
einigen Beschreibungen bezieht sie sich auch 
auf die „Zivilisation Ungarns", auf die 
Hebung der kulturellen Zustände des Lan- 
des, die mit der Aufgabe einer wissenschaft- 
lichen Institution gut im Einklang stehtK. 
Für eine weitere Interpretationsmöglichkeit 
enthalten die Aufzeichnungen Szechenyis 
AnhaItspunkteQ. Darnach versinnbildlicht 
der Adler Szechenyi selbst, die Frauen- 
gestalt aber seine spätere Gattin, Gräfin 
Crescence Seilern, die in der Zeit der Ent- 
stehung der Allegorie noch die Frau des 
Grafen Karoly Zichy gewesen ist. S0 
schreibt Szechenyi am 30. Januar 1826 in 
seinem Tagebuche: „Sie (Crescence) wird 
bestimmen, ob ich fortdienen, ob ich 
quittieren werde. (Er war nämlich in dieser 
Zeit I-Iusarenhauptmann.) Die Amphitrite 
(I), die einem (!) Adler zu trinken gibt." 
Und am 15. April 1830 schreibt er an 
Crescence: „Ich dachte an Sie als mir die 
Idee des Gemäldes kam. Vous devez faire 
sortir le vieux Scythe, que l'aigle represente, 
de Tenebres." Die Meinung, daß die 
Allegorie als Porträt von Crescence ange- 
sehen werden müsse, ist jedoch abzu- 
lehnen 10. Im Jahre 1846, nach dem Tode 
ihres ersten Gatten, wurde sie die Frau 
des Akademiebegründers, doch es ist un- 
wahrscheinlich, daß dieser die Personen
	        
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