(Brüssel, Bibliotheque Royalc, Ms. 11.041)
erscheinen so verwandt, daß man die
Werkstätten in Brügge suchen möchte.
Aber das ist nicht einwandfrei ausgemacht,
vielleicht sind sie auch etwas südlicher zu
lokalisieren, denn eine vierte Handschrift,
die Pelerinages de la vie humainc des
Guilleaumc de Deguileville (Brüssel, Ms.
10.176), wahrscheinlich das früheste Zeugnis
dieser Gruppe, noch aus dem ausgehenden
14. Jahrhundert, ist aus einer Werkstatt
des Artois hervorgegangen9. Keine dieser
Handschriften gehört zur Gruppe der
Stundenbücher und ähnlicher geistlicher
Manuskripte. Ihre soziale Funktion war
eine durchaus andere. Die Astrologische
Handschrift ist wohl vom Herzog von
Betty geschenkt worden, dennoch kann
sie ebensowenig wie die anderen zur
Kategorie der höfischen Handschriften ge-
zählt werden. Die Miniaturen i es sind
mehr oder Weniger lavierte Federzeich-
nungen _ sind nicht kleine Gemälde, die
Landschaften, Bauten, Kostüme und man-
cherlei Beiwerk ausführlich schildern, viel-
mehr sind sie mehr skizzenhaft angelegt,
und häufig sind sie ungerahmt, so daß die
Figuren frei auf der Blattfläche stehen.
Nur sie waren den Malern wesentlich;
Raum, Architektur und Landschaft waren
dagegen kaum Problem, überhaupt sind
italienische Anregungen wenig zu be-
merken. Aber in den Figuren haben die
Maler Alter und Häßlichkeit, Leid und
Gemeinheit höchst lebendig anschaulich
gemacht. In der Wiesbadener und der
Brüsseler Handschrift ist gemeines Volk
ganz ungeschminkt geschildert; plump ge-
bärdcn sich die Figuren, die in die Alltags-
tracht der Zeit gekleidet sind, ordinär,
häßlich, verderbt sind die Gesichter. Mit
neuzeitlich kühl-sachlichen Augen sind sie
geformt.
Nicht sosehr Stilistik als vielmehr Schil-
derung wollen diese Miniaturen sein.
Schönheit und Reinheit, Jugend und llri-
sche waren nur bedingt die Ideale der
hlaler. Damit unterscheiden sie sich tief-
greifend von den zuerst genannten Tafel-
und Buchmalereien aus Brügge und Gent,
stehen sie zumal in schärfstem Kontrast zu
den Miniaturen der Hofmaler, eines Jacque-
mart de Hesdin, eines Boucicaut-Meisters,
der Brüder von Limburglo. Der burgun-
dische Hof mit seiner ritterlich-romanti-
schen Atmosphäre ist fern. Fragt man aber
nach den Anfängen dieser realistischen
Richtung, so muß auf Jean de Bandol
(Bondol), dem l-lennequin aus Brügge,
verwiesen werden. Nicht erst zur Zeit der
Brüder van Eyck War Brügge die Geburts-
stätte einer neuen, auf die Natur als einer
Quelle aller Gestaltung blickenden Kunst,
schon eine Generation zuvor War von hier
ein erster Anfang ausgegangen i freilich
in sehr anderer Richtung.
Jean Bandol hat sowohl in den mit ihm
persönlich oder doch mindestens werk-
stattlich oder schulmäßig zu verbindenden
Handschriften, vor allem in der 1371 für
Charles V. xiollendeten i signierten -
Bibel (Haag, Museum Meeranno-West-
reenianum, Ms. 10 B. 23) wie auch in den
von ihm entworfenen und von Nicolas
Bataille in den Jahren 1376-1381 für den
Bruder des Königs, den Herzog von Aniou,
gewebten Apokalypse-Teppichen in Angers
dem Realismus zu einem ersten Durch-
bruch verholfenll. W'ie in jenen eben be-
sprochenen Handschriften äußert er sich
am auffallendsten in den Gesichtern der
Figuren, in ihrer Mimik, er wird aber auch
schon in ihren Gebärden und Bewegungen
deutlich, und höchst neuartig selbständig
hat Bandol bereits Tiere und Pflanzen
gesehen, hat er vielteilige Architekturen,
reiche Baldachine, kleine Landschaftsma-
tive geschildert. Raum und Tiefenbewe-
gungen waren ihm schon Probleme, die
Landschaftssegmente erscheinen schon als
Aktionsbiihnen. Die Farben wechseln in
den Teppichen noch korrespondierend von
Bildfeld zu Bildfeld, das ist wie vieles
andere traditionell, auch die Falten und
Konturen sind zumeist noch im Sinne der
französischen Schönschrift stilisiert, aber
wie sich im Kolorit auch freiere, realistische
Kombinationen Finden, so sind die Ge-
wänder allgemein weicher geformt, und
in diesen reicheren Schattierungen deutet
sich der neue malerische Stil des folgenden
Jahrhunderts an. Eine Handschrift des
13. Jahrhunderts war, wie eine zeitge-
nössische Eintragung besagt, Bandol zum
Vorbild gegeben worden, er ist nichts
weniger als ein Kopist gewesen. Nur im
allgerneinsten ist er der gcwiesenen Vorlage
gefolgt, im einzelnen hat er alles neu
erfunden, er hat es in einer ausgesprochen
realistisch-prosaischen Weise erfunden und
geformt. Noch bevor Jacquemart de Hesdin
und die anderen Hofmaler ihre Kunst der
schönen Kantilene entwickelt hatten, war
ihnen in Bandol also ein Widerpart er-
standen. Neben ihnen, den Meistern einer
höüschen Marchenkunst, begegnet er in
seinen Werken als Prosaist; so ist er ihnen
um mehr als ein Jahrzehnt vorausgegangen.
Er suchte sprechende Gebärden und leb-
hafte Mimik, und er gab, wo es der lnhalt
verlangte, auch häßliche Physiognomien.
Verquält sind in der Bibel von 1371 die
Gesichter der weinend-klagenden Mütter
im Kindermord, finster blickt der Sämann
in der Darstellung der Flucht nach Ägypten.
Eine ausgesprochen bürgerliche Stimmung
atmen Bilder wie die Geburt des Kindes
oder die Anbetung der Könige. Nicht
wenige Köpfe erscheinen als Bildnisse; im
Dedikationsbild ist Charles V. schonungs-
los in seiner stupiden Häßlichkeit porträ-
tiert. Da wird es deutlich, ein erster Bürger-
maler, ein Meister einer in die Neuzeit
weisenden Prosa ist Bandol gewesen, auch
wenn er in hÖFlSChCH Diensten tätig ge-
wesen ist. Natürlich darf scine Art nicht
als ein ausschließender Gegensatz zu der
Kunst der Hofmaler verstanden werden.
Wie Jacquemart de Hesdin, die Brüder
von Limburg, der Boucicaut-Meister Pio-
niere gewesen sind, die altniederländische
Malerei hätte ohne sie niemals erstehen
können, so ist Bandol umgekehrt nicht
nur Realist gewesen. Manche schönschrift-