Hirten in den Tres riches Heures in
Chantilly, begegnen vergleichbare Figuren
im Mailand-Turiner Stundenbuch.
Ähnlich und doch, weil er jünger war,
anders war die Situation für Robert Campin.
Wie alle diese Maler hat auch er aus den
Werken der höi-ischen Maler geschöpft.
Sowohl zu jacquemart de Hesdin wie den
Brüdern von Limburg und dem Boucicaut-
Meister lassen sich Beziehungen auf-
weisen, sie sind nicht zu übersehen, deut-
lich haben sie an seinen Gestalten und
Kompositionen mitgeformt. Die Geburt
Christi (Dijon, Musee), sein um 1410
entstandenes Frühwerk, findet sich in den
Trcs riches Heures in wesentlichen Mo-
tiven ähnlich angelegt 15; vorgebildet wäre
zuviel gesagt. Die ungefähr gleichzeitige
Entstehung - die Chantilly-Heures sind
zwischen 1413 und 1416 ausgeführt wor-
den - legt eher nahe, ein gemeinsames
Vorbild in einer etwas älteren Miniatur
anzunehmen. Wie immer es hier und in
anderen Fällen aber auch gewesen sein
mag, zuletzt bleiben derlei Beziehungen
stets im Ikonographischen und Motivi-
schen, kaum erreichen sie einmal die Form,
den Stil.
Mehr waren die Ursprünge seines Schaffens
in der von Jean Bandol ausgegangenen
realistischen Richtung verankert. Die emi-
nent plastische, monumentale Statuarik der
Maria und der Veronika auf den Tafeln
aus der Abtei Flemalle (Frankfurt, Städel-
sches Kunstinstitut) waren sein persönliches
Verdienst, und doch, wie sie dastehen,
lenken sie den Blick zurück auf die Jo-
hannes-liiguren der Apokalypse-Teppiche
in Angers, wobei zu beachten ist, daß
deren Folge eine beträchtliche Entwicklung
hin zu der Art Campins erkennen läßt.
Die Faltenbewegungen der späteren Jo-
hannes-Gestalten zeigen eine stärkere Brei-
tentendenz und sind plastisch kräftiger
durchgeformt. Zukünftige Entwicklungen
deuten sich an. Fast ein halbes Jahrhundert
sollte vergehen, bis Campin die Tafeln für
Flemalle gemalt hat; bei diesem beträcht-
lichen zeitlichen Abstand sind nicht mehr
als erste Hinweise zu erwarten. Der Zu-
sammenhang ist dennoch nicht zu ver-
kennen, er ist um so mehr zu begreifen,
als diese Bilder Campins im ersten Satz der
niederländischen Symphonie eine etwas
altertümliche Episode darstellen, obwohl
sie bereits um 1425, also in des Malers
späterer Zeit, entstanden sind. Wie es
scheint, hat er hier mehr als sonst auf
ältere Vorbilder zurückgegriffen, es müssen
Vorbilder gewesen sein, die in der Tra-
dition von Bandol erwachsen waren. Dahin
weisen ganz allgemein auch die geprägten
und nicht selten haßlichen Gesichter, die
wie ein Signum der von der Kunst der
höfischen Buchmaler und der Brüder van
Eyck grundverschiedenen Auffassung Cam-
pins wie zuvor Bandols verstanden werden
dürfen. Die Innenräume oder wenigstens
den Hinweis auf den Raum als ein Funda-
ment der Bildgestaltung hat Robert Campin
wiederum von der hölischen Richtung
empfangen. Die Situation war kompliziert
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und ist richtig nur dann zu verstehen,
wenn man immer wieder die verschiedenen
Richtungen und Schichten in ihren mannig-
fachen Verliechtungen beachtet. So ist mit
solch einer Feststellung stets nur ein erster,
ganz allgemeiner Hinweis gegeben, denn
wie kam Campin dazu, schon dem Zimmer
in dem frühen Merocle-Altar (New York,
Metropolitan Museum) eine behaglich-
intime Stimmung zu geben? Seine Tat
kann es nicht ausschließlich gewesen sein;
anderes, sagen wir: eine lokale Atmosphäre,
muß hinzugekommen sein.
Alle, 0b Broederlam, Jan van Eyck, Roger
van der Weyden oder Robert Campin, sind
von beiden Richtungen angeregt und mehr
oder weniger von der einen oder anderen
geprägt worden. Damit ist schon gesagt,
daß es zugleich zu unterscheiden und zu
differenzieren gilt. Die Brüder van Eyck
blieben, solange sie malten, der inter-
nationalen Richtung, dem „weichen Stil"
verbunden, auch wenn sie mancherlei
fremde Erfahrungen - 2. B. von seiten
Robert Campins 7 aufgenommen haben.
Wie die höiischen Miniaturmaler erstrebten
sie eine möglichst schwerelose Bilderschei-
nung, wobei ihnen die Ausweitung der
Komposition in eine illusionäre Tiefe, auch
Weite, ein wichtiges Mittel gewesen ist.
Ihre Bildräume erscheinen gegenüber den
Figuren selbständig; man kann die Figuren
aus ihnen herausnehmen, sie bleiben existent.
Es besteht kein statisches Verhältnis zwi-
schen ihnen, mehr scheinen die Figuren in
ihnen zu schweben. Campins Bildgefüge
wirken daneben schwer und drängend.
Kompakt, ja wuchtig sind die für die
Zimmerdimensionen viel zu großen Fi-
guren, gedrungen und dicht sind auch dic
Bildräume, die zudem meistens verhält-
nismäßig Hach sind. Wie geknetet wirken
sie, und Raum und Figur sind immer ein
einziger plastischer Komplex. Zu wuch-
tiger Plastizität sind sie miteinander mo-
delliert, unmöglich die Figuren, aus den
Bildräumen herauszulösen. Sie existieren
in- und miteinander, wie Tabcrnakel und
gotische Skulptur. Campins Bildvorstel-
lungen waren vornehmlich plastisch-Figural,
die der Brüder van Eyck hingegen mehr
malerisch-raumhaft, womit sie Gedanken
der Tres riches Heures weitergedacht ha-
ben.
Von Melchior Broederlams Diioner Tafeln
wird man diesen plastischen Realismus
Campins nicht oder doch nur mit wesent-
lichen Einschränkungen ableiten können.
Gewiß, auch zur Kunst der Brüder van
Eyck führt von den Dijoncr Bildern kaum
ein Weg, man wird Broederlam überhaupt
nicht gerecht, wenn man ihn der einen
oder anderen Richtung zuordnet und also
zum direkten Ahnen von Jan van Eyck
oder Robert Campin macht. Dann wird
man ihn weiterhin zu einem Schattendasein
verurteilen. Vielmehr sollte man ihn als
eine aus flandrischen und franknvlämischen
Voraussetzungen erwachsene erste Mani-
festation der niederländischen Malerei ver-
stehen. Die Synthese, die endgültig am
Beginn des zweiten jahrhundertviertels
15
16
Südüandrischer Meister (Wcrknau), HI. Gregor, aui
11.-.- Außenseite. Kxcuzlixugu-II, Sammlung Kisters
Südtiandrischex Meister (Werkstatt). m. Hieronymus.
auf" du Außenscixc. Krcuzlingun. Samlnlung Kam-ß
ANMERKUNGEN 15716
I! A. a. 0., Abb. 81 und 201.
15 A. z. 0.. S. 112.