Kunst höchst sublimierter realistischer For-
men konnte dieses stilisierte Leben an-
schaulich machen. Dennoch darfdie Pionier-
leistung dieser Miniaturrnaler nicht unter-
schätzt werden. Auch der Boucicaut-Meister
und die Brüder von Limburg haben die
bildliche Darstellung in die dritte Dimen-
sion geweitet und haben die Figuren zudem
in einer neuen Weise als Charaktere be-
griffen. Wenn sie dennoch primitiver
erscheinen, so ist, wie schon angedeutet,
zu betonen, daß die Brüder von Limburg
bereits um 1400 tätig gewesen sind. Viel-
leicht noch vor der Jahrhundertwende hat
ihr Onkel Maelwael sie an den Pariser Hof
gebracht, und 1402]03 haben sie, ebenfalls
in Paris, in burgundischen Diensten ge-
standen. Und der Boucicaut-Meister, der
um 1402 in Italien gewesen sein muß, hat
gegen 1410 spätestens die ersten überlie-
fetten Miniaturhandschriften geschaffen.
Der Kreis läßt sich erweitern. Das um
1410 entstandene Reisealtärchen, das soge-
nannte Norfolk-Altärchen (Rotterdam, Mu-
seum Boymans-van Beuningen), das den
dargestellten Heiligen zufolge in Maastricht
oder im Bistum Lüttich, also im Geburts-
raum der Brüder van Eyck entstanden ist,
erscheint den Hubert van Eyck zuge-
schriebenen Miniaturen im lNiailand-Turiner
Stundenbuch immerhin so verwandt, daß
wenigstens ein lokaler Zusammenhang
angenommen werden darf. Das nur noch
in Reproduktionen überkommene Bild der
Muttergottes mit Heiligen, ebenso die
Figürchen in Randszenen wie der Ver-
spottung Christi oder der Einsegnung
eines Friedhofes sind in Haltung, Gebärde
wie auch Faltcnspiel überraschend gleich
geartet und zudem von gleich hohem
Niveau. Mitunter sind diese Figürchen in
ihren elegant stilisierten Gewändern zum
Auswechseln ähnlich. Und weiterhin sind
Beziehungen zu dem 1415 datierten Gebet-
buch der Maria von Geldern (Berlin,
Staatsbibliothek, cod. germ. 4042, z. Zt.
Tübingen) und zu der Zeichnung einer
vornehmen Gesellschaft in Uppsala aufzu-
zeigen. Das Norfolk-Altärchen dürfte um
1410 anzusetzen sein, die Tres riches
Heures in Chantilly sind um 1413-1416,
das Mailand-Turiner Stundenbueh ist zwi-
schen 1415 und 1417 zu datieren. Diese
Daten verbieten, ein Schüler-Lehrer-Ver-
hältnis vorauszusetzen. Ob es anzunehmen
ist, wenn man ältere Handschriften Pauls
von Limburg, die vor 1404 illuminierte
Bibel Philipps des Kühnen (Paris, Biblio-
theque Nationale, Ms. fr. 166) oder das um
1405 ausgestattete Brevier Johanns Ohne-
furcht (London, British Museum, Ms. Add.
35.311 und Ms. Harley 2897), einbezieht,
mag vorerst eine offene Frage bleiben, mit
Gewißheit aber läßt sich sagen, daß hier
im limburgisch-gelderischen Raum seit
spätestens 1400 eine künstlerische Situation
gegeben gewesen war, der die Kunst der
Brüder van Eyck entwachsen konnte. Aus