VON HAMBURG NACH
lELGOLAND"
Aus der Ansprache Professor Dr. Gerhard Wieteks
zur Eröffnung der vom Altonaer Museum in Baden
bei Wien veranstalteten Ausstellung
Die norddeutsche Landschaft, deren Horizont tief
liegt und die den Blick am Nächstliegenden vorbei
in die Ferne führt, kommt dem Betrachter nicht
entgegen. Eher entzieht sie sich ihm, bietet mehr
Himmel als Erde und laßt - nach allen Seiten
geöffnet 7 den Menschen, der in ihr ist, nicht in
sich selbst ruhen. Sie weckt das Verlangen nach
dem Unbekannten, das hinter oder über ihr ist,
das romantische Suchen nach Bedeutung und
Deutung, welches iener glückhaften Gewißheii
überschaubaren Besitzes im Wege steht, die dem
Biedermeier eigentümlich ist. Wer an der See
wohnt, hat gar nicht die Möglichkeit, hohen Zielen
entgegenzustreben, ihm fehlen gleichsam die
natürlichen Voraussetzungen zur emporgesteiger-
ten barocken Apotheose. er lernt früher und leichter
1 Galionsfiguren „S-rvanlight", _,Florence Holm" und
..sEbib-d", 1B30lt840. Holz, aefaßt, 153 und isbmi
z Eduard Ritter (iszo-issz) flüttl Rudolph HCtFdOFff
(isib-ieovi, D05 Blockhaus und der Binnenhafen
von Hamburg, um ibso. Liiiibg-bbiiie, 25,5X3S(TW.
Hamburg, Äilßmlef Museum
3 lDCQb cisnsicriisos-ims), Am Strand bEt Blcnkenese,
iaziz. oi Guf LSlFVNGVld, zzzxsmm Hamburg,
Altcnaer Museum
2 als die Höhe die Weite zu ermessen und im be-
ständigen Ausloten der Tiefe eine wesentliche
Voraussetzung seiner Existenz zu begreifen. So
erschweren die geringen Niveauunterschiede des
Landes. auf dem er lebt, die Gegensötzlichkeit
zwischen oben und unten, so, wie das gemäßigte
Klima die Kontraste zwischen heißen und kalten
Temperaturen und Temperamenten mildert. Der
flüchtig-schöne Augenblick zählt zumeist nur als
Bestandteil eines größeren Ganzen. zu dem er
summiert wird, und der Rhythmus der Gezeiten
des Meeres ist so beständig wie der wechselnde
Wind, der die Orientierung zur Pflicht macht und
die Richtungsbezogenheit fordert.
Diese Charakterisierungsversuche mögen genügen,
um die Voraussetzungen anzudeuten, aus denen
die Kunst und Kultur einer Landschaft sich ent-
wickeln mußte. die in des Wortes zweifacher
Bedeutung ihre Menschen zum Handeln bestimmte.
Es kann keinem Zweifel unterliegen. daß eben
hier und nicht auf dem Gebiete der schönen Künste
und Wissenschaften die historische Leistung Ham-
burgs im 19. Jahrhundert gesucht werden muß.
nämlich im Ausbau und der Entwicklung seines
Hafens zu einem Tor der Welt. Der Weg aber. den
jedes - gleich woher kommende Schiff pas-
sieren muß. das in diesen Hafen einfahren oder ihn
verlassen will, ist der Weg .,Von Hamburg nach
Helgoland", den wir zugleich als Titel für unsere
Ausstellung gewählt haben,
Hamburg, das war auch schon im 19. Jahrhundert,
auf welches sich unsere Ausstellung beschrankt,
Deutschlands größter Hafen, ein Umschlagplatz
für alle Güter dieser Erde. die auf großen und
kleinen Segelschiffen von und zu nahen oder fernen
Gestaden befördert wurden, das war ein Sammel-
platz der Auswanderer. die - aus welchen Grün-
den auch immer ? dem alten Kontinent den
Rücken kehren und in unbekannten Breiten ihr
Glück versuchen wollten. Hamburg, das war aber
auch ein Ort, zwischen dessen hohen, noch mittel-
alterlichen Fachwerkhäusern und -schuppen der
langen Fleete und Gange sich niederdeutsche
Sprache und Lebensart um so hartnäckiger zu
behaupten schien. ie bunter und vielfältiger die
Hautfarbe und das Gebaren fremder Reisender
und Matrosen sich amlungfernsleig. aufder Reeper-
bahn oder in der Grollen Freiheit bemerkbar
machte
Helgoland, die fast ZOO km von Hamburg ent-
fernte, von der freien Nordsee umbrandele rote
Felseninsel, war crst am Ende des 19. Jahrhunderts
endgültig an Deutschland gelangt. Seit 1807 hielten
es die Engländer besetzt, die ungewollt den Ruhm
der Insel auch im Binnenland mchrtcn, als sie 1864
österreichischen Ftotieneinheiten unter ihrem
Admiral Tegetlhoff zu einer ihrer letzten See-
schlachten i gegen die Dünen - und den sich
unter Preußens Hegemonie entwickelnden Neu-
Deutschen zur Nationalhymne verhalfen: jeden-
falls zu ihrem Deutschland über alles preisenden
Text, den Hoffmann von Fallersleben 1541 auf
dem englischen Helgoland niederschrieb. also zii
einer Zeit. da seine weit von hier entstandene
Melodie, Haydns österreichische Kaiserhymne,
längst ein aufgrößere Zusammenhänge weisendes,
übernationales Besitztum geworden war. , .
Hamburg und Helgoland wollen jedoch auch in
unserer Ausstellung nicht ausschließlich, sondern
als Angelpunktc einer Wegcstrccke betrachtet
werden, an der die charakteristischen Zuge einer
bestimmten Landschaft abgelesen werden können
und die Kulturgeschichte eines diese beiden Angel-
punkte übergreifenden Lebensraumes vorstellbar
wird, eines Lebensraumes, für den das Wasser
Segen und Verderbnis. Arbeit und Vergnügen.
Nähe und Ferne zugleich bedeutet. Ohne dieses
Element gäbe es keine Höfen und Inseln, nicht die
ihm abgerungenen. unter seinem Spiegel liegenden
Marschen oder die steil abfallenden. von den
Landsitzen der Kaufleute bekrönten Ufer, es gäbe
keine Schiffe und keine Werften. keine Fischer und
keinen Fischfang, und es götie vor allem nicht jene
unmittelbare Verbindung mit der großen. weiten
Welt, die leder Wellenschlag zwischen Hamburg
und Helgoland selbst an den verstecktesten Strand
zu tragen scheint. _
Gerhard Wietek
49