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Volltext: Alte und Moderne Kunst XII (1967 / Heft 94)

Rudolf Kuhn 
DIE UNIO MYSTICA DER 
HL. THERESE VON AVILA 
VON LORENZO BERNINI 
IN DER CORNAROKAPELLE 
IN ROM 
1 Rum. Saum Maria dclla Vinoria, Cornarokapclle. Altar 
mit der Unio myszicz du hl. Therese von Avila von 
Lorenzo Demini 
ANMERKUNGEN 1i3 
Äjncob Burckhardl, Ciceronl: (Werke, Darmstadt 1959, 
v0]. X. . 105) 
1 Rudnlf iltkoÄler, Bcmini, Th: sculplorÄ Lenden 1966. 
. 3. 
ß Eu dem Elementaren und mythischen "m1 des "Welt- 
stufcnhaucs" sich: dcsscn Erklärung bei Norbert Huse. 
Bcrninis Vicrslrömebnxnncn, Dia. phil. München 196a, 
im Druck. In dieser Arb:it ist unter anderem hervor! 
ragend gezeigt, wie das Ideal dieses ,.Wclrsrufcnbaues" 
verbunden mit der Rücksicht auf das Dckorum Bernini 
sogzr veranlaßr, ein: neue mythische Gestalt zu cründen. 
2 
„Hier vergißt man freilich alle bloßen Stil- 
fragen", sagte Jacob Burckhardt vor diesem 
Werke: dieser Satz ist gültig; doch auf 
Grund des Fortschreitens in der allgemeinen 
Kenntnis des Menschen brauchen wir nicht 
mehr, Burckhardt folgend, dem Werk 
unser Verständnis versagen und fortfahren: 
hier vergesse man freilich alle bloßen Stil- 
fragen „über der empörenden Degradation 
des Übernatürlichen" l. Allerdings steht 
das Werk so vor uns, daß eine Art negativer 
Objektivität des bloßen Geltenlassens un- 
angebracht erscheint und wir eher auf- 
gefordert sind, Jacob Burckhardt in seiner 
positiven Objektivität nachzustreben und 
unsererseits das Kunstwerk neu zu werten. 
Eine neue Wertung möchte nun aber gerade 
über eine neue Beurteilung des Gestaltungs-, 
Kompositions- und Auffassungsstiles, eine 
neue Beurteilung der Entwicklung Berninis 
im Fortgang seines langen Lebens (1598 bis 
1680, Therese 16445.) gelingen; wobei die 
richtige Einschätzung der Werke der 
Borghesezeit (1621 ff), besonders durch 
Rudolf Wittkower, der schrieb: „with these 
works Bernini inaugurated a new era in 
the history of European sculpture"2, vor 
allem wichtig ist. Die Bedeutung dieser 
Figuren nämlich, die zumindest eine Epoche 
für die Ätlälqlirhkeilen der europäischen 
Skulptur in der neueren Geschichte sind, 
kann nicht entschieden genug betont wer- 
den. Trotzdem aber hat nach wie vor zu 
gelten, daß in Berninis Frühwerken die 
Bedeutung des Künstlers, auch nicht der 
zureichenden Möglichkeit nach - sofern 
solcher Rede auf dem Gebiete der Kunst 
überhaupt ein Sinn innewohnt -, be- 
schlossen liegt; schon gar nicht liegt in 
„Bibiana" und „Longinus" etwas von seiner 
wahren Bedeutung als religiöser Künstler. 
Vielleicht könnte man sich die Werke der 
Borghesezeit als Fundament, die Werke 
von der „Therese" bis zur „Engelsbrücke" 
als Hoch-Zeit seiner Kunst und die Werke 
jenseits der „Engelsbrücke" als Krönung 
seines Werkes, gruppiert, bei einander vor- 
stellen. In der „Therese" und den ihr 
folgenden Werken wird das vorher ge- 
wonnene Niveau, die vorher eingeschlagene 
Fragerichtung beibehalten, aber wesentlich 
gewendet. Diese Wende bleibt, wie wichtig 
die letzte, die Krönung herbeiführende 
Änderung auch sei, wesentlich bis zum 
Ende. So muß für Berninis religiöse 
Skulptur, wie schon zur Zeit Burckhardts 
und auch vorher, in der „Therese", in 
welcher die mystische Vereinigung der 
entrückten Heiligen mit Gott in der Liebe, 
welche durch den goldenen, brennenden, 
himmlischen Wurfpfeil des zu ihrer Seite 
weilenden Engels entzündet wird, dargestellt 
wurde, das entscheidende Werk gesehen wer- 
den; und, soweit seine Kunst religiös ist (und 
sie ist es von der „Therese" an fast aus- 
schließlich), liegt für jeden Ausleger seiner 
Kunst Rhodos hier und nirgend sonst. 
In den Borghesei-iguren, so muß das Ergeb- 
nis einer Untersuchung hier wenigstens 
umschrieben Werden, hatte Bernini eine 
vorher ungesehene Sicht auf die Lebens- 
mächtigkeit und -einheit der Menschen 
gestaltet, die nämlich mit allem ihrem 
Schreiten und Greifen sich selbst und ihre 
Möglichkeiten ohne jede Abschweifung in 
einem erfüllen und sich ganz in diese 
Erfüllung ihrer Möglichkeiten hineinge- 
nommen haben, so daß sie aus dem Ganzen 
ihrer Existenz handeln. Sie bleiben nicht 
etwa, wie es Michelangelo gestaltete, mit 
der Wendung ihres Hauptes und der Rich- 
tung ihres Blickes Leib und Aktionen gegen- 
über doch auch wieder souverän und von 
ihnen abgewandt, sondern nehmen ihren 
ganzen Leib in ihr Tun und Wollen mit 
hinein und gehen im Vollbringen auf. Sie 
vollbringen nichts Kleines oder Geringes, 
sondern etwas Hohes und Großes und 
ergreifen und erschreiten sich ein Ganzes 
und in sich Abgeschlossenes, das für ihre 
Welt zu gelten hat, die sie erfüllen. In der 
„Therese" weicht nun die Mächtigkeit der 
Gestalten ihrer Ohn-Mächtigkeit, Schwäche, 
Hingegebenheit. So unbeschränkt und ein- 
heitlich die Gestalten aber bisher ihre Macht 
auslebten, so unbeschränkt und einheitlich 
lebt Therese ihre hinfällige Hingegeben- 
heit. Damit ist ein ebenso neuer, ebenso 
ungesehener Begriff vom christlichen Heili- 
gen, dessen Erfüllung die Hingegebenheit 
an Gott ist, gestaltet worden; die ganze und 
grenzenlose Hingegebenheit ohne jede aus- 
nehmende Abschweifung: in dieser Hin- 
gegebenheit bleibt nichts als souverän (etwa 
der Kopf), nichts als unwürdig (etwa der 
Leib) außerhalb. 
„Therese", die im Gang seines Lebens das 
Initialwerk des Künstlers für diese Wende 
ist, stellt ebenfalls den Gipfel und Höhe- 
punkt eines gedachten Weges der Heiligung 
dar, auf dessen Stufen die anderen Ge- 
stalten (von der ersten Ergriffenheit durch 
Gott in „Konstantin", der gläubigen 
Folgsamkeit in „Habakuk", des hoffenden 
Betens in „Danie1" über das liebende Sehnen 
der Magdalena und die liebende, betrach- 
tende Geneigtheit über das Leiden Jesu 
des Hieronymus bis zu ihr hin) stehen. 
Dieser Stufenbau der Heiligkeit ist das 
Herzstück eines „Weltstufenbauf, der von 
den Elementen, den Pflanzen und Tieren 
über den „Mor0", die Flußgötter, Neptun 3, 
die tugendhaften, die heiligen Menschen 
bis zu den Engeln emporsteigt und von 
der Verhaftetheit an die Elemente zu immer 
höherem, immer freierem Sichaufrichtcn 
führt und endlich beim der Erde ent- 
hobenen Schweben auf Wolken endet: 
Heilige der höchsten Stufe, auf Wolken 
liegend (Therese), die Engel, gar auf 
Wolken stehend (Engelsbrücke). 
Diese Hierarchie auszugestalten, war lange 
Jahre Berninis eigene Aufgabe. Die krönen- 
den Werke nach der „Engelsbrücke" (1671 f.) 
zeigen Berninj zwar, wie er an der hin- 
fälligen Hingegebenheit festhält, ja sie noch 
tiefer ergreift, noch radikaler sieht; neben 
ihr aber dem dreiundsiebzig jährigen Künst- 
ler die Hierarchie ohne Belang und von ihm 
beiseite gelassen wird. Verschwindet so aus 
seinem Werk des Barocks liebstes Kind, 
so bleibt das Religiöse seines Gcstaltens 
und erreicht seine religiöse Erschütterung 
noch tieferen Grund.
	        
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