. . . Um Mißverständnissen vorzubeu-
gen, sei zunächst eine Definition des
Begriffes Stilmöbel gegeben: es handelt
sich dabei um heute hergestellte Möbel,
für deren Formgebung - unter Be-
rücksichtigung zeitgemäßer Zweckhaf-
tigkeit w Dekorationsprinzipien und
Ornamente vergangener Stilepochen
verwendet werden. Das Ergebnis ist
somit nicht als Kopie, sondern als
Nachempündung zu bezeichnen. Die
Auswahl der Ornamente erfolgt zumeist
nach Gesichtspunkten wie: passend.
wirkungsvoll, geschmackvoll, hübsch i
und hält sich nur sehr allgemein, oft
sehr vage an historische Vorbilder.
Daran schließt sich folgerichtig die
Frage, ob diese Einstellung neu ist
oder ob man bereits in der Vergangen-
heit bei der Anfertigung von qualität-
vollem Gebrauchsgut (und nur davon
kann hier die Rede sein) nach ähn-
lichen Grundsätzen vorgegangen ist.
Die Antwort lautet: ja i im Zeitalter
des Historismus, in der Gründer- oder
Ringstraßenzeit . . .
Und wie verhält es sich mit der zeit-
genössischen Produktion? Sie lehnt jede
Übernahme historischer Stilelemente
oder deren Ncichempfindung strikte
ab und will formal autonom sein.
Stilmöbel folgen also einem Gestal-
tungsprinzip, das heute vor mehr als
130 Jahren - mit Beginn des zweiten
Rokoko - aufgestellt wurde und bereits
seit ungefähr 70 Jahren nicht mehr
gültig ist.
Sind die sogenannten Stilmöbel des-
halb, weil sie einer früheren Kunst-
auffassung folgen, als legitime Fort-
führung des daraus hervorgegangenen
Stils zu betrachten und verdienen sie
daher die gleiche Bewertung wie die
Werke jener Stilepoche, die sie ver-
gegenwärtigen?
Diese Frage muß entschieden mit Nein
beantwortet werden.
Warum? - Seit der Renaissance können
wir nur dann von einem Stil sprechen.
wenn eine bestimmte Art der Gestaltung
sich auf die schöpferischen Leistungen
historisch faßbarer künstlerischer Per-
sönlichkeiten, Kunstrichtungen oder
-schulen zurückführen lassen.
Man denke, um nur einige Namen
aus verschiedenen Zeiten zu nennen.
an denstilbildenden EinflußA. C. Boulles,
der großen Pariser Ebenisten des
18. Jahrhunderts, Perciers und Fontaines
zu Napoleons Zeiten in Frankreich:
Chippendales, Hepplewhites. Shera-
tons und Adams in England; Schlüters,
Plitzners, Cuvillies und Schinkels in
Deutschland.
In der Epoche des Historismus war es
nicht anders. Diese Kunstrichtung wurde
entscheidend durch das publizistische
und baukünstlerische Schaffen Gott-
fried Sempers begründet; ihm folgten
Theophil Hansen sowie alle Architekten
der Ringstraße und nicht zuletzt die
wahrhaft stilbildende Wirkung des
Österreichischen Museums für Kunst
und Industrie sowie der Kunstgewerbe-
schule, deren Lehrer der gewerblichen
ProduktionWiens und derÖsterreichisch-
50
ungarischen Monarchie richtungwei-
sende Impulse gaben.
Das gilt genauso für die Möbelge-
staltung im 20. Jahrhundert: sie wird
geprägt durch die oft kühnen und
höchst individuellen Neuschöpfungen
von Van de Velde, Josef Hoffmann,
Josef Olbrich, Josef Frank, Marcel
Breuer, durch die Grundsätze der
Werkbundbewegurig, des Bauhauses.
durch Gio Ponti in Italien und durch
die vorbildlichen Arbeiten skandina-
vischer Möbelentwerfer.
Hat einer dieser Künstler. eine dieser
künstlerischen Institutionen Stilmöbel
entworfen? Meines Wissens nicht. Es
hätte nicht in ihr Konzept gepaßt, das
dahin gerichtet war: Unter Berück-
sichtigung der Funktion des Möbels
und der modernen Produktionsmetho-
den sowie Materialien, neuartige.
schlichte, klare Formen zu entwickeln.
In welche Kategorie sind also die
Stilmöbel einzuordnen?
In die Gattung der bloß nach kommer-
ziellen Rücksichten gestalteten Erzeug-
nisse. Nicht künstlerische Erwägungen
sind maßgebend. sondern die Bezug-
nahme auf günstige Absatzmöglich-
keiten.
Wenn also Verkaufschancen bestehen,
müssen sie einem Bedürfnis entspre-
chen.
Und damit kommen wir zu dem im
Thema der Diskussion enthaltenen
Problem des „gemütlich Wohnens",
wozu die Erwerbung von Stilmöbeln
beitragen soll.
Ja kann denn Gemütlichkeit im Waren-
katalog ausgewählt und dann wohl-
verpackt in die leeren vier Wände
einer bezugsfenigen Wohnung mit den
neuen Möbeln mitgeliefert werden?
Ist Gemütlichkeit nicht vielmehr eine
höchst individuelle Leistung? Ja. sie
resultiert aus der Summe aller sehr
differenzierten und vielschichtigen An-
logen einer Persönlichkeit, die sich eine
Wohnung einrichtet, gestaltet.
Der sprachliche Ausdruck ist hier sehr
aufschlußreich: der Wohnung soll Ge-
stalt gegeben werden, sie soll eine
durch die Sinne erfaßbare Ganzheit
darstellen, wie sie der Mensch selber
ist.
Die Atmosphäre einer Wohnung sollte
nichts anderes sein als eine Aus-
strahlung des Wesens, der Interessen,
der Veranlagung dessen, der in ihr
lebt, eine Projektion aller dieser Eigen-
schaften in den Lebensraum der intimen
Umwelt.
Das ist nicht mit Konfektion zu er-
reichen. Weder unter Verwendung
von Stilmöbeln noch von modernem
Mobiliar.
Die Voraussetzung dafür, daß die
Empfindung der Behaglichkeit. des
Sich-zu-Hause-Fühlens aufkommen
kann, bildet ausschließlich das Vor-
handensein jener Dinge, die für den
Bewohner mit geistigen und seelischen
Werten angereichert sind und daher
diese Seiten seines Wesens ansprechen:
eine Beeinflussung, die sich auch auf
den Besucher überträgt.
Zum Schluß daher noch eine sehr
entscheidende Frage: Ist Gemütlichkeit
überhaupt als ein Formprinzip, als ein
künstlerischer Wert anzusprechen?
Ich möchte diese Frage verneinen.
Immer standen formale und ästhetische
Überlegungen im Vordergrund, frei-
lich waren sie auch stets aufs engste
mit der Berücksichtigung der Material-
gerechtheit und der Zweckhaftigkeit
verbunden.
Diese beiden Komponenten. das For-
male und die Funktion, zu harmo-
nischem Ausgleich zu bringen, ist ja
die Aufgabe, die der entwerfende
Künstler und der Hersteller zu erfüllen
haben, damit ein gutes Erzeugnis der
angewandten Kunst entsteht; ein Ter-
minus übrigens, der tatsächlich sehr
treffend das Wesen eines künstlerisch
gestalteten Gebrauchsgegenstandes be-
zeichnet.
Und wenn ich mich nun an dieser
Stelle kurz der anderen Seite. nämlich
der nach modernen Grundsätzen ge-
stalteten Möbelproduktion, zuwende,
dann scheint mir hier der Moment
gekommen. um für die Käufer von
Stilmöbeln gelegentlich doch einiges
Verständnis aufbringen zu können.
Manchmal hat es nämlich den Anschein.
als würden die Entwerfer der modernen
Möbel allzusehr dem Prinzip einer
uneingeschränkten Autonomie huldigen.
In der Verfolgung einer Maxime, eines
Programms, dem sie sich verschrieben
haben und das sie nun - getrieben
von der Faszination des Experimen-
tierens - bis zur äußersten Konsequenz
zu verwirklichen trachten, geraten sie
nur zu leicht in den luftleeren Raum
eines überspitzten Formalismus oder
Konstruktivismus. Durch diese Ein-
seitigkeit wird jedoch der Blick auf
das Ganze verstellt, d. h. die Beziehung
zum Menschen wird vernachlässigt,
wenn nicht gar außer acht gelassen.
Und doch sollten alle diese Dinge in
erster Linie für ihn, zu seinen guten
Diensten und zu seiner Freude - nicht
nur zu Nützlichkeit und Verbrauch -
geschaffen sein.
Ich denke da vor allem an die ge-
legentlich doch als hybrid zu bezeich-
nenden Gebilde aus Metall und aus
gepreßten Materialien. die vielleicht für
Wartehallen in Flughäfen. in Groß-
banken u.ä. geeignet sein mögen.
deren konstruktivische Kälte aber kaum
für ein Leben lang in einer Wohnung
ertragen werden kann.
Solche Produktionen haben die Flucht
zu den Stilmöbeln heraufbeschworen
und verschuldet. Sie fallen besonders
auf, und die negative Reaktion. die sie
auslösen, wird auf alles Moderne über-
tragen. Denn der Mensch neigt nun
einmal zu Verallgemeinerungen.
Stilmöbel sind gewiß nicht der geeignete
Weg zu gut gestaltetem Wohnen - das
Gemütliche wollen wir beiseite lassen.
das soll und muß der Mensch selbst
leisten W aber sie sind auch eineständigc
und wahrscheinlich berechtigte Heraus-
forderung an die zeitgenössischen Ent-
werfer und Künstler.