Emil Rainer
EL GRECOS AUFSTIEG
ANMERKUNGEN 1 , 2
I c. D. Mcrtzios. Domerxicos Theotokopulos, nouveaux
Elbments biographiqucs. Anc vcneta, annala xw19s1,
Seite 2x1.
1 Matthäus 9, 21-31, zo, 2944. 21. 14. Markus s. 22-26,
w, 46-52. Lukas 1a, 35-42. Johannes s, 14.
Im Jahre 1961 kam aus einem Notariatsakt
des Staatsarchivs von Venedig zutage, daß
Domenikos Theotokopulos noch am 6. Juni
1566 als Maler in Kandia, der Hauptstadt
des damals venezianischen Kreta, gelebt
hat]. Demnach ist er, in authentischer
Widerlegung aller abweichenden Datie-
rungen, nicht vor dem Sommer 1566, das
ist mit fünfundzwanzig Jahren, nach Vene-
dig gekommen. Dort hatten sich zahlreiche
griechische Künstler als Madonneri nieder-
gelassen. Da er sich ihnen nicht anschloß,
kann man annehmen, daß er sich schon
in Kreta von der byzantinischen Malweise,
die allein dort herrschte, gelöst hatte.
Werke von ihm aus jener frühen Jugend
sind nicht bekannt geworden, doch dürfte
er hauptsächlich als Porträtist gearbeitet
haben. jedenfalls war das Bild, das er vor
der Abreise malte, um sich in Venedig
als Künstler auszuweisen, keine Ikone.
Ich vermute, daß es ein Selbstbildnis war,
das er später zum gleichen Zwecke nach
Rom mitgenommen hat.
In Italien wurde er, der seine Bilder stets
in griechischen Buchstaben signierte, als
der Greco, der Grieche, bekannt, und
dieser Name blieb ihm, statt Griego, auch
in Spanien. Vier Jahre arbeitete er als
Gehilfe bei Tizian, stand aber auch mit
Tintoretto und den Bassani in engem Ver-
kehr. Die Zahl seiner eigenen Werke ist
überraschend gering. Das älteste ist wahr-
scheinlich das Polyptychon im Museum von
Modena, bestehend aus drei in Tempera beid-
seits bemalten 37 x24 cm großen Holztafeln.
Wie alle Erstlingswerke sind diese biblischen
Bilder unbefangen und anspruchslos. Noch
voll von Erinnerungen an Kreta ist Greco
den verwirrenden Einwirkungen der reichen
Handelsstadt nicht verfallen; aber bald
greifen sie sein seelisches Gleichgewicht
und seine künstlerische Sicherheit an. Dies
zeigt sich an der Blindenheilung im Museum
von Dresden, einem Temperabild auf Holz
von 66x84 cm (Abb. 1). Es ist nicht
signiert, wird aber durch die nächste
Blindcnheilung identifiziert.
Die Heilung von Blindgeborencn wird von
allen Evangelisten überliefertl. Ihre Be-
richte legt Greco auswählend zu einem
Mosaik zusammen.
Jesus, von I-Iimmelslicht umstrahlt, kommt
mit vielem Volk aus der Stadt. Auf die
Bittrufe des blinden Bettlcrs ist er er-
barmungsvoll stehengeblieben und öffnet
ihm, der, noch den Stab in der Hand, vor
ihm niedetkniet, durch seine Berühung das
Auge. Der Sack, der Krug und der Hund
des Bettlers sind in der Nähe. Die Leute,
die Jesus begleiten, haben sich geteilt.
Links sind drei Männer im Gespräch;
eine Frau hört zu, aber niemand beachtet
das große Geschehen. Es sind simple
Menschen, die nichts aus ihrer Stumpfheit
erwecken kann; sie stehen so nahe bei
Jesus und werden doch nicht gewahr,
daß die Welt nicht nur für die Blinden hell
geworden ist. Ganz anders sind die Männer
rechts. Es sind die Schriftgelehrten und
Gesetzestreuen, die aus ihrer selbstgewissen
Ruhe gescheucht sind. Einer von ihnen,
mit dem Rücken zum Beschauer, weist mit
dem Arm auf das Wunder, aber nur der
hochgewachsene junge Mann blickt hin;
die anderen tun, als würden sie nichts met-
ken. Aber in Wirklichkeit beobachten sie
mit Argwohn, was vorgeht, denn es ist
gerade Sabbat, der von Gott eingesetzte
heilige Ruhetag, den nach ihrem eng-
stirnigen Fanatismus Jesus durch seine
ärztliche Handlung entweiht (Johannes 9,
14 und 16). Doch vielleicht ist meine
Deutung zu phantasievoll; vielleicht han-
delt es sich bei allen nur um Statisten, wie
ia auch die Paläste, die mehr ornamental
als monumental das Bild abschließen,
eigentlich nichts anderes sind. Es muß
jedoch auffallen, daß Greco die Teilnahrns-
losigkeit der einen und die Widerspenstig-
keit der anderen schildern wollte, aber nicht
die Verehrung der Jünger, die zweifellos
auch dabei waren. So scheint es vielmehr,
daß der Maler nur das zentrale Thema
durchdacht und alles übrige dem Zufall
der Improvisation während der Arbeit
überlassen hat. Die Erscheinung Jesu ist
würdig dargestellt, aber sonst sind die
Gesichter Hüchtig behandelt. Wir sehen,
daß Greco seine unbefangene Frische ver-
loren hat, ohne zur Reife zu finden.
Auch sein nächstes Bild entnimmt den
Stoff der Heilsgeschichte. Es ist die Ver-
treibung des Handels aus dem Tempel,
65x83 cm groß, in Öl auf Leinwand,
signiert, jetzt in der Nationalgalerie in
Washington (Abb. 2).
In einem prächtigen Saal ballt sich das
Volk zu Haufen, zwischen denen Jesus
vorgetreten ist. Entgegen den Evangelien
gibt es keinen Geldwechsel und keinen
Wechslertiseh. Überhaupt ist vom Geschäfts-
betrieb wenig zu merken, und nicht gegen
diesen richtet sich der AngriffJesu, sondern
er fällt wahllos auf den Erstbesten, der sich
gerade in der Nähe aufhält und der zudem
weder Verkäufer noch Käufer ist. S0 des
Sinns beraubt, ist das Bild schon in der
Anlage verfehlt. Wie soll es da zu einer
Tempelreinigung kommen? Von der Menge
wird der Vorfall kaum beachtet; er unter-
bricht nicht das Feilschen des alten Krämers,
der neben seinem Korbe sitzt, und erreicht
nicht die sparsam bekleidete Frau des
Vordergrundes, die Tauben und wohl gar
sich selbst feilhälr. Zweideutig ist auch ihre
Nachbarin, die eine bloße Brust heraus-
streckt, und wie selbstverständlich stellt
die Frau rechts oben den üppigen Busen
zur Schau. Während die Männer ohne viel
Differenzierung in trübem Rostbraun ge-
malt sind, hat Greco sein ganzes Können
an die Frauen verwendet, die er von Venedig
nach Jerusalem versetzt. Ihre Anwesenheit
ist doppelt skandalös, weil sie dem Evan-
gelium widerspricht, das nur von Männern
berichtet: „Zu den Taubenhändlern sprach
er: Macht nicht meines Vaters Haus zu
einem Kaufhaus!" (Johannes 2, 16.) Von
Unzucht ist nicht die Rede, denn niemals
haben sich im Tempel Frauen unter die
Männer gemischt; sind doch noch heute
im jüdischen Ritus die Geschlechter ge-
trennt.
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