Die Malerei und die Skulptur ist jelzt frei, denn
jedermann darf heute allerlei Gebilde produzieren
und nachher ausstellen. ln der Architektur besteht
jedoch diese grundsätzliche Freiheit, die als Be-
dingung jeder Kunst anzusehen ist. noch immer
nicht. denn man muß erst ein Diplom haben. um
bauen zu können. Warum?
Jeder soll bauen können. und solange diese Bau-
freiheil nicht existiert. kann man die gegenwärtige,
geplante Architektur überhaupt nicht zur Kunst
rechnen.
Die Architektur unterliegt bei uns derselben
Zensur wie die Malerei in der Sowjetunion. Was
realisiert ist, sind einzeln dastehende erbärmliche
Kompromisse von Linealmenschen mit schlechtem
Gewissen!
Man soll den Baugelüsten des einzelnen keine
Hemmungen auferlegen! Jeder soll bauen können
und bauen müssen und so die wirkliche Verant-
wortung tragen für die vier Wände, in denen er
wohnt.
Es ist an der Zeit, daß die Leute selbst dagegen
revoltieren, daß man sie in Schachtelkonslruk-
tionen setzt. so wie die Hendeln und die Hasen
in Küfigkonslruktionen, die ihnen wesensfremd
sind.
Der Mensch muß seine kritisch schöpferische
Funktion wiedereinnehmen, die er verloren hat
und ohne die er aufhört. als Mensch zu existieren.
Um die funktionelle Architektur vor dem morali-
schen Ruin zu retten, soll man auf die sauberen
Gtaswönde und Betonglütten ein Zersetzung:-
produkt gießen, damit sich dort der Schimmelpilz
festsetzen kann. Es ist an der Zeit. daß die Industrie
ihre fundamentale Mission erkennt. und die ist:
Schöpferische Verschimmelung betreiben!
Nur die Techniker und Wissenschaftler. die im-
stande sind. im Schimmel zu leben und Schimmel
schöpferisch zu erzeugen. werden die Herren von
morgen sein. Und erst nach der schöpferischen
Verschimmelung. von der wir viel zu lernen
haben. wird eine neue und wunderbare Archi-
tektur entstehen.
(Aus dem ,.verschimmetungs-manifest
gegen den rationatismus in der archi-
tektur". Das Manifest wurde erstmals
in der Abtei Seckau am 4.Juli 1958
verlesen. In einer Auflage von drei-
hundert signierten und numerierten
Exemplaren erschien es noch im selben
Jahr als Schrift der Galerie Renate
Boukes im Verlag Reinhard Kaufmann.
MainzeWeisenau.)
SV
Meiner Überzeugung nach ist der Mensch von drei
Architekturenschichten umgeben: Von der Haut,
von der Kleidung und vom Gebäude. Kleidung
und Gebäude haben ene Entwicklung in den
letzten Jahrhunderten genommen. die nicht mehr
der Naturund den Bedürfnissen des Einzelmenschen
entsprechen. Im Zuge der Vermessung der Gesell-
schaft wird dem einzelnen das Unangemessene
aufgezwungen. Dem Protest gegen diese Umstände
auf dem Gebiet der Architektur diente die Farb-
demonstration; dem Protest gegen die Vergewalti-
gung durch die Kleidung diente die Entkleidung.
So sollte jetzt das nackte, naturbelassene Indi-
viduum als Verkünder des Protestes statuierl und
der korrigierten Architektur an die Seite gestellt
werden.
lch hatte keinesfalls die Absicht. irgend jemand
unter den Gästen, insbesondere nicht Frau Dok-
tor Sandner. zu beleidigen oder zu brüskieren.
Für die Unverlünglichkeit meiner Vorgangsweise
dient mir als Alibi Franz von Assissi, der ebenfalls
in der Öffentlichkeit (auch in der Kirche) nackt
auftrat und damit die Loslösung von sämtlichen
weltlichen Gütern demonstrieren wollte.
(Hundertwasser im Polizeiprotokoll.
das am 26.Jünner 1968. also einen
Tag nach seinem Architekturpratesl im
Internationalen Studentenheim der Stadt
Wien. in Wien aufgenommen wurde)
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