der Stadtmauer und die Verbauung des
damit gewonnenen breiten Geländestreifens
zwischen der Inneren Stadt und den Vor-
städten an. Die dabei entstandene „Ring-
straße" mit den repräsentativen Gebäuden
für Verwaltung und Kultur war eine der
großen Bauaufgaben der Zeit und lockte
bald bedeutende Architekten aus verschie-
denen Ländern nach Wien. Städtebauliche
Fragen waren zu lösen, „Monumental-
bauten", wie man die riesenhaften Kom-
plexe nanntel, und Zinspaläste waren zu
errichten und zeitigten eine architektonische
Blüte, die einen Modellfall für die Stil-
geschichte der Baukunst des Historismus
abgibt.
In diesem Stilablauf lassen sich drei Phasen
unterscheiden: Zunächst der Romanlixrlze
Hirtarixmux, der etwa das mittlere Drittel
des 19. Jahrhunderts umfaßt. Er ist in
seinen Anfängen mit einer architektonischen
Richtung des Spätklassizismus im Vormärz
verzahnt, die Hitchcock4 als „Rundbogen-
stil" bezeichnet, die ich aber zufolge ihrer
betont rustikalen, fast amorph wirkenden
Massigkeit der Außenerscheinung, Welche
durch einen Grundriß von klassizistischer
Strenge gebändigt erscheint, als „Kubischen
Stil" bezeichnen möchte. In Wien repräsen-
tieren diese Richtung ausgeführte Bauten
des Peter Nobile, der hier erstmals die
dorische Ordnung aufnimmt und auch
archäologische Treue anstrebt. Das Nobile
nahestehende Landesgericht oder das Haupt-
zollamt von Paul Sprenger sind typische
Leistungen dieser Strömung des 2. Viertels
des 19. Jahrhunderts. Nicht nur ihrer
Bestimmung nach, sondern auch im Stil
wird das Wehthaftc, ja Militante besonders
hervorgehoben, und das bleibt auch im
romantischen Historismus, wo in der
figürlichen Ausstattung oft das patriotische
Moment stark unterstrichen wird. S0 etwa
bei dem aus Arsenal, Franz-Josefs- und
Rudolfs-(heute R0ssauer-)kaserne gebildea
tcn Festungsdreieck, das nach der März-
Revolution von 1848 die Stadt mehr gegen
den inneren als den äußeren Feind schützen
sollte. Künstlerisch am bedeutendsten davon
ist das Arsenal (1849-1856), ein großes
Geviert, das die Aufgabe Verteidigungs-
fähiger Militäretablissements und Waden-
depots vereinigt. Die führenden Architekten
des romantischen Historismus, wie Ludwig
Förster, Theophil Hansen, Sicardsburg und
van der Nüll, Karl Rösner, haben die
einzelnen Trakte entworfen und sich dabei
des bis dahin in Wien ungcbräuchlichen
Rohziegelbaues bedient. Man bezeichnete
diesen damals als „Materialbau"5 und
meinte eine besondere Ehrlichkeit der
Baugesinnung damit zu dokumentieren, daß
man das eigentliche Baumaterial nicht hinter
Verputz verschwinden ließ. Heute scheint
cs freilich, als ob die dekorative Farbigkeit
der roten und gelben Ziegel einen wesent-
lichen Ausschlag bei ihrer Verwendung ge-
geben hätre. Die aus Umfassungsbauten
und freistehenden Trakten (Museum, Werk-
stätten usw.) gestaltete Anlage des Arsenals
scheint zunächst der bei Kasernen, Spitälern
usw. gebräuchlichen Hofanlage zu folgen.
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In Wirklichkeit ist dieses Hofsystem aber
bereits gesprengt, denn die das Geviert
einfassenden Bauten bilden nicht durch-
gehende Trakte, sondern wuchtige, in sich
geschlossen konzipierte Einzelblöcke, die
durch niedrigere Zwischenbauten nur lose
zusammengebunden werden. Sie stammen
von Sicardsburg und van der Nüll, und
mittelalterliche Burgen Italiens haben bei
ihrem Entwurf Pate gestanden. Theophil
Hansen, der mit dem Waifenrnuseumö
Wiens ersten Museumsbau schuf, geht im
Grundriß von klassizistischen Anregungen
aus, die er mit den oft als romanisch be-
zeichneten byzantinischen und islamischen
Formen verbindet. Dekorative Details aus
diesen Kunstkreisen werden auch zum
Schmuck der sonst streng und nüchtern
konzipierten Verwaltungsbauten verwendet.
Diese wurden bis 1848 im wesentlichen von
den Beamten des Hofbaurates, besonders
von Paul Sprenger, gestaltet, der ein
äußerst tüchtiger Techniker und in seinen
architektonischen Entwürfen sachlich, ra-
tionell und nüchtern - insgesamt heute
sehr modern wirkend - war. Die Zeit-
genossen haßten ihn ob seiner Allmächtig-
keit im Hofbaurat, der alle öffentlichen
Bauaufträge im Beamtenwege erledigte, die
folgende Generation7 lehnte ihn aus ge-
schmacklichen Gründen ab. Bezeichnender-
weise entflammte sich der Architektur-
skandal, der Sprengers führender Position
ein Ende bereitete, an einem Kirchenbau.
Die Sakralarchitektur war nach einem
radikalen Rückgang in Auswirkung des
Joseiinismus seit der Tätigkeit Clemens
Maria Hofbauers in Wien wieder zu einer
führenden Bauaufgabe geworden, und zwar
begann Karl Rösner seit den dreißiger
Jahren eine Reihe von Kirchen zu errichten.
Meist legte er zwei bis drei Alternativ-
projekte vor, welche gotische oder früh-
christliche Bauformen abwandelten, und
führte dann jene aus, bei denen ein Kom-
promiß, eine Verbindung zwischen den
Extremen hergestellt war. Dieser Mischstil,
den ich als „romantischen Historismus"
bezeichne, war es auch, den Paul Sprenger
für den Bau der Altlerchenfelder Kirche
plante, ehe ihm das Jahr 1848 die Leitung
des bereits in den Grundmauern festgelegten
Baues entwand und den Hofbaurat stürzte.
Für die Fertigstellung wurde eine Kon-
kurrenz ausgeschrieben, als deren Sieger
der Schweizer Architekt Johann Georg
Müller hervorging. Vergleicht man heute
den nach seinen Plänen ausgeführten Bau
mit dem Entwurf Sprengers, so treten die
damals die Gemüter so sehr bewegenden
Unterschiede auffallend in den Hintergrund.
Dagegen wird eine Einheit des Zeitstiles
faßbar, innerhalb derer die Schwankungen
durch eine geringere oder stärkere Opulenz
der Formen bestimmt werden. Demnach hat
nicht erst die März-Revolution mit dem
Sturz des Hofbauiates, der Gründung des
Ingenieur- und Architektenvereines sowie
der Konkurrenzausschreibung bei öffent-
lichen Bauten an Stelle der Beamtenprojekte
für Wien jener neuen Architektur die Tore
geöffnet, wie sie andernorts, besonders in
München, schon reich zur Entfaltung ge-
kommen war ; vielmehr haben die Ereignisse
des Jahres 1848 einer bereits vorhandenen,
allerdings purifizierten Richtung zur künst-
lerischen Entfaltung verholfen. Jedenfalls
liegen die reichsten Bauten des romantischen
Historismus in seiner Spätzeit, wie Ferstels
Bank- und Börsengebäude oder die Wiener
Oper von Sicardsburg und van der Nüll.
Damit ist angedeutet, daß dieser Stil einen
Formwandel, das was man als „Entwick-
lung" zu bezeichnen pflegt, mitmacht, deren
BeeinHussung durch äußere Nlaßnahmen
man nicht überschätzen darf. Der Wandel
geht von der kubischen Massigkeit des
Baublockes mit großen, meist ohne Säulen-
ordnung gegliederten Flächen zu einer seht
reich dekorierten Oberfläche des Baues,
und zwar innen wie außen. Die Vorbilder
für diese Dekoration finden sich in künst-
lerischen Epochen, die auf einem vor der
Klassik der Hochrenaissance liegenden
Niveau stehen, also abgesehen von byzan-
tinischen und islamischen Anregungen vor
allem solche des italienischen Tre- und
Quattrocento, jedoch auch jener trans-
alpinen Renaissancestile, die vom Ornament-
reichtum Oberitaliens im späten 15. und
frühen 16. Jahrhundert berührt waren.
Solche Anregungen werden in etwas spröder,
meist zeichnerisch wirkender Manier ange-
wandt, wobei die Anerkennung des Bau-
blockes durch die Hächenhafte Schmückung
seiner Oberhaut ein wichtiges stilistisches
Kriterium bildet. Übermäßig plastische,
schattende Motive werden vermieden, wo-
gegen eine Steigerung des OberHächen-
reichtums durch die Schichtung der Wand
erstrebt wird, bei der ein graphisch wirken-
des, Haches Relief entsteht. Dem entspricht
die Anwendung der Lokalfarbe sowohl bei
der Ausgestaltung des Außenbaues wie
auch bei der Innendekoration. Neben der
malerischen Dekoration spielt auch die
monumentale Bauplastik, die im Klassizis-
mus zurückgedrängt war, eine neue Rolle,
und auch das Kunstgewerbe wird in das
Gesamtkonzept einbezogen; das Aussehen
wird weitgehend vom Architekten be-
stimmt. So wird die Vereinigung aller
Kunstgattungen unter einem Programm
angestrebt, ein „Gesamtkunstwerk", wie es
Gottfried Semper und Richard Wagner
forderten, die Generationsgenossen der in
Wien tätigen Architekten des romantischen
Historismus waren.
Die Zeitgenossen haben den hier als roman-
tischen Historismus bezeichneten Stil als
eine Synthese empfunden, die aus der Ver-
bindung und Abstimmung verschiedener
Stile der Vergangenheit entstanden war und
einen neuen, der Zeit gemäßen Stil dar-
stellte.
Die folgende Phase, die hier als „rtrenger
Hirmrismm" bezeichnet wird, setzte bald
nach der jahrhundertmitte ein und reicht
bis gegen 1880. Es wäre irreführend, wollte
man aus den nunmehr an Stelle quattro-
centesker Formen verwendeten Motiven
der italienischen Hochrenaissance und des
Manierismus eine geradlinige Weiterent-
wicklung aus der vorangehenden Phase