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Volltext: Alte und Moderne Kunst XIII (1968 / Heft 100)

der Stadtmauer und die Verbauung des 
damit gewonnenen breiten Geländestreifens 
zwischen der Inneren Stadt und den Vor- 
städten an. Die dabei entstandene „Ring- 
straße" mit den repräsentativen Gebäuden 
für Verwaltung und Kultur war eine der 
großen Bauaufgaben der Zeit und lockte 
bald bedeutende Architekten aus verschie- 
denen Ländern nach Wien. Städtebauliche 
Fragen waren zu lösen, „Monumental- 
bauten", wie man die riesenhaften Kom- 
plexe nanntel, und Zinspaläste waren zu 
errichten und zeitigten eine architektonische 
Blüte, die einen Modellfall für die Stil- 
geschichte der Baukunst des Historismus 
abgibt. 
In diesem Stilablauf lassen sich drei Phasen 
unterscheiden: Zunächst der Romanlixrlze 
Hirtarixmux, der etwa das mittlere Drittel 
des 19. Jahrhunderts umfaßt. Er ist in 
seinen Anfängen mit einer architektonischen 
Richtung des Spätklassizismus im Vormärz 
verzahnt, die Hitchcock4 als „Rundbogen- 
stil" bezeichnet, die ich aber zufolge ihrer 
betont rustikalen, fast amorph wirkenden 
Massigkeit der Außenerscheinung, Welche 
durch einen Grundriß von klassizistischer 
Strenge gebändigt erscheint, als „Kubischen 
Stil" bezeichnen möchte. In Wien repräsen- 
tieren diese Richtung ausgeführte Bauten 
des Peter Nobile, der hier erstmals die 
dorische Ordnung aufnimmt und auch 
archäologische Treue anstrebt. Das Nobile 
nahestehende Landesgericht oder das Haupt- 
zollamt von Paul Sprenger sind typische 
Leistungen dieser Strömung des 2. Viertels 
des 19. Jahrhunderts. Nicht nur ihrer 
Bestimmung nach, sondern auch im Stil 
wird das Wehthaftc, ja Militante besonders 
hervorgehoben, und das bleibt auch im 
romantischen Historismus, wo in der 
figürlichen Ausstattung oft das patriotische 
Moment stark unterstrichen wird. S0 etwa 
bei dem aus Arsenal, Franz-Josefs- und 
Rudolfs-(heute R0ssauer-)kaserne gebildea 
tcn Festungsdreieck, das nach der März- 
Revolution von 1848 die Stadt mehr gegen 
den inneren als den äußeren Feind schützen 
sollte. Künstlerisch am bedeutendsten davon 
ist das Arsenal (1849-1856), ein großes 
Geviert, das die Aufgabe Verteidigungs- 
fähiger Militäretablissements und Waden- 
depots vereinigt. Die führenden Architekten 
des romantischen Historismus, wie Ludwig 
Förster, Theophil Hansen, Sicardsburg und 
van der Nüll, Karl Rösner, haben die 
einzelnen Trakte entworfen und sich dabei 
des bis dahin in Wien ungcbräuchlichen 
Rohziegelbaues bedient. Man bezeichnete 
diesen damals als „Materialbau"5 und 
meinte eine besondere Ehrlichkeit der 
Baugesinnung damit zu dokumentieren, daß 
man das eigentliche Baumaterial nicht hinter 
Verputz verschwinden ließ. Heute scheint 
cs freilich, als ob die dekorative Farbigkeit 
der roten und gelben Ziegel einen wesent- 
lichen Ausschlag bei ihrer Verwendung ge- 
geben hätre. Die aus Umfassungsbauten 
und freistehenden Trakten (Museum, Werk- 
stätten usw.) gestaltete Anlage des Arsenals 
scheint zunächst der bei Kasernen, Spitälern 
usw. gebräuchlichen Hofanlage zu folgen. 
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In Wirklichkeit ist dieses Hofsystem aber 
bereits gesprengt, denn die das Geviert 
einfassenden Bauten bilden nicht durch- 
gehende Trakte, sondern wuchtige, in sich 
geschlossen konzipierte Einzelblöcke, die 
durch niedrigere Zwischenbauten nur lose 
zusammengebunden werden. Sie stammen 
von Sicardsburg und van der Nüll, und 
mittelalterliche Burgen Italiens haben bei 
ihrem Entwurf Pate gestanden. Theophil 
Hansen, der mit dem Waifenrnuseumö 
Wiens ersten Museumsbau schuf, geht im 
Grundriß von klassizistischen Anregungen 
aus, die er mit den oft als romanisch be- 
zeichneten byzantinischen und islamischen 
Formen verbindet. Dekorative Details aus 
diesen Kunstkreisen werden auch zum 
Schmuck der sonst streng und nüchtern 
konzipierten Verwaltungsbauten verwendet. 
Diese wurden bis 1848 im wesentlichen von 
den Beamten des Hofbaurates, besonders 
von Paul Sprenger, gestaltet, der ein 
äußerst tüchtiger Techniker und in seinen 
architektonischen Entwürfen sachlich, ra- 
tionell und nüchtern - insgesamt heute 
sehr modern wirkend - war. Die Zeit- 
genossen haßten ihn ob seiner Allmächtig- 
keit im Hofbaurat, der alle öffentlichen 
Bauaufträge im Beamtenwege erledigte, die 
folgende Generation7 lehnte ihn aus ge- 
schmacklichen Gründen ab. Bezeichnender- 
weise entflammte sich der Architektur- 
skandal, der Sprengers führender Position 
ein Ende bereitete, an einem Kirchenbau. 
Die Sakralarchitektur war nach einem 
radikalen Rückgang in Auswirkung des 
Joseiinismus seit der Tätigkeit Clemens 
Maria Hofbauers in Wien wieder zu einer 
führenden Bauaufgabe geworden, und zwar 
begann Karl Rösner seit den dreißiger 
Jahren eine Reihe von Kirchen zu errichten. 
Meist legte er zwei bis drei Alternativ- 
projekte vor, welche gotische oder früh- 
christliche Bauformen abwandelten, und 
führte dann jene aus, bei denen ein Kom- 
promiß, eine Verbindung zwischen den 
Extremen hergestellt war. Dieser Mischstil, 
den ich als „romantischen Historismus" 
bezeichne, war es auch, den Paul Sprenger 
für den Bau der Altlerchenfelder Kirche 
plante, ehe ihm das Jahr 1848 die Leitung 
des bereits in den Grundmauern festgelegten 
Baues entwand und den Hofbaurat stürzte. 
Für die Fertigstellung wurde eine Kon- 
kurrenz ausgeschrieben, als deren Sieger 
der Schweizer Architekt Johann Georg 
Müller hervorging. Vergleicht man heute 
den nach seinen Plänen ausgeführten Bau 
mit dem Entwurf Sprengers, so treten die 
damals die Gemüter so sehr bewegenden 
Unterschiede auffallend in den Hintergrund. 
Dagegen wird eine Einheit des Zeitstiles 
faßbar, innerhalb derer die Schwankungen 
durch eine geringere oder stärkere Opulenz 
der Formen bestimmt werden. Demnach hat 
nicht erst die März-Revolution mit dem 
Sturz des Hofbauiates, der Gründung des 
Ingenieur- und Architektenvereines sowie 
der Konkurrenzausschreibung bei öffent- 
lichen Bauten an Stelle der Beamtenprojekte 
für Wien jener neuen Architektur die Tore 
geöffnet, wie sie andernorts, besonders in 
München, schon reich zur Entfaltung ge- 
kommen war ; vielmehr haben die Ereignisse 
des Jahres 1848 einer bereits vorhandenen, 
allerdings purifizierten Richtung zur künst- 
lerischen Entfaltung verholfen. Jedenfalls 
liegen die reichsten Bauten des romantischen 
Historismus in seiner Spätzeit, wie Ferstels 
Bank- und Börsengebäude oder die Wiener 
Oper von Sicardsburg und van der Nüll. 
Damit ist angedeutet, daß dieser Stil einen 
Formwandel, das was man als „Entwick- 
lung" zu bezeichnen pflegt, mitmacht, deren 
BeeinHussung durch äußere Nlaßnahmen 
man nicht überschätzen darf. Der Wandel 
geht von der kubischen Massigkeit des 
Baublockes mit großen, meist ohne Säulen- 
ordnung gegliederten Flächen zu einer seht 
reich dekorierten Oberfläche des Baues, 
und zwar innen wie außen. Die Vorbilder 
für diese Dekoration finden sich in künst- 
lerischen Epochen, die auf einem vor der 
Klassik der Hochrenaissance liegenden 
Niveau stehen, also abgesehen von byzan- 
tinischen und islamischen Anregungen vor 
allem solche des italienischen Tre- und 
Quattrocento, jedoch auch jener trans- 
alpinen Renaissancestile, die vom Ornament- 
reichtum Oberitaliens im späten 15. und 
frühen 16. Jahrhundert berührt waren. 
Solche Anregungen werden in etwas spröder, 
meist zeichnerisch wirkender Manier ange- 
wandt, wobei die Anerkennung des Bau- 
blockes durch die Hächenhafte Schmückung 
seiner Oberhaut ein wichtiges stilistisches 
Kriterium bildet. Übermäßig plastische, 
schattende Motive werden vermieden, wo- 
gegen eine Steigerung des OberHächen- 
reichtums durch die Schichtung der Wand 
erstrebt wird, bei der ein graphisch wirken- 
des, Haches Relief entsteht. Dem entspricht 
die Anwendung der Lokalfarbe sowohl bei 
der Ausgestaltung des Außenbaues wie 
auch bei der Innendekoration. Neben der 
malerischen Dekoration spielt auch die 
monumentale Bauplastik, die im Klassizis- 
mus zurückgedrängt war, eine neue Rolle, 
und auch das Kunstgewerbe wird in das 
Gesamtkonzept einbezogen; das Aussehen 
wird weitgehend vom Architekten be- 
stimmt. So wird die Vereinigung aller 
Kunstgattungen unter einem Programm 
angestrebt, ein „Gesamtkunstwerk", wie es 
Gottfried Semper und Richard Wagner 
forderten, die Generationsgenossen der in 
Wien tätigen Architekten des romantischen 
Historismus waren. 
Die Zeitgenossen haben den hier als roman- 
tischen Historismus bezeichneten Stil als 
eine Synthese empfunden, die aus der Ver- 
bindung und Abstimmung verschiedener 
Stile der Vergangenheit entstanden war und 
einen neuen, der Zeit gemäßen Stil dar- 
stellte. 
Die folgende Phase, die hier als „rtrenger 
Hirmrismm" bezeichnet wird, setzte bald 
nach der jahrhundertmitte ein und reicht 
bis gegen 1880. Es wäre irreführend, wollte 
man aus den nunmehr an Stelle quattro- 
centesker Formen verwendeten Motiven 
der italienischen Hochrenaissance und des 
Manierismus eine geradlinige Weiterent- 
wicklung aus der vorangehenden Phase
	        
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