und vom Verfall bedrohten Volkskunst,
andernteils auf ihren Einbau in den neuen,
modernen bzw. in den „ungarischen" Stil.
Während aber in diesem neu erwachten
Interesse zur Zeit der nationalen Romantik
die Gefiihlskomponenten den rationellen
gegenüber die unbestrittene Vorherrschaft
behaupteten, zeichnete sich um die jahr-
hundertwendc auf diesem Gebiet eine in
wachsendem Maß bewußtc und zielstrebige
Tendenz ab, die sich im ersten Jahrzehnt
unseres Jahrhunderts in verschiedenen
Kunstsparten zu einem ebenso systematisch
aufgebauten Wissenschaftlichen Programm
verdichtete wie im Musikschaffen Bartöks
und Kodalys.
Die ungarische Kunst um 1900 und vor
allem das Kunstgewerbe läßt mithin nicht
nur Westliche Stilbindungcn, vielmehr auch
ernsthafte Bestrebungen zur Erforschung
und Verwertung durchaus eigenständiger
und im ungarischen Volkstum wurzelnder
Überlieferungen erkennen.
Zwischen dem Jugendstil als europäischer
Erscheinungsform und der Volkskunst als
Überlieferungsgut gibt es im ungarischen
Kunstgewerbe A ähnlich wie in der
skandinavischen und russischen Kunst, auf
deren Analogien ich hier nicht eingehen
kann 7 in vielen Fällen keine klare Schei-
dung. An gewissen Werken lassen sich
Bindungen an dieses oder jenes europäische
Stilmerkmal beobachten, nicht selten aber
auch deutliche Abweichungen. Es handelt
sich demnach keineswegs nur um eine
passive Aufnahme fremden künstlerischen
Geistesgutes, vielmehr um ein gleichzeitiges
Trachten nach aktiver und bewußter Ent-
wicklung einer spezifischen, originellen
und eigenartigen Formensprache.
Welches der beiden Elemente jeweils
überwiegt, wann und auf welche Art inner-
halb der unterschiedlichen Richtungen diese
oder jene Konstruktions- und Dekorations-
elemente starker zur Geltung kommen,
hängt maßgeblich von der Persönlichkeit,
der schöpferischen Kraft und den indivi-
duellen Arbeitsmethoden des betrelfenden
Künstlers ab. Deshalb darf man unter den
in der ungarischen Sezession auftretenden
ungarischen Stilbestrcbungen keine auf
gemeinsame und einheitliche Grundlagen
aufgebauten Ausdrucksformen verstehen,
und demgemäß weisen die unterschiedlichen
Erzeugnisse auch keine in allen Belangen
identischen Stilmerkmalc auf. In ihnen
spiegelt sich vielmehr die Fähigkeit des
betreffenden Künstlers, die häufig diver-
gierenden und in manchen Fällen sogar
einander widersprechenden Komponenten
des europäischen Stils und der nationalen
Tradition innerhalb eines Kunstwerkes zu
einer harmonischen Einheit zu verschmel-
zen.
Einige Schöpfungen Pal Hortis (1865 bis
1907), der die ungarischen Ausstellungs-
pavillons für Turin und St. Louis entwarf
und dekorierte, knüpfen an den Kreis des
belgischen „Linear Art Nouveau" (Schmutz-
ler) 17 an. Seine Tapetcnentwürfe (Abb. 12)
und Fensterglasmalercicn (Abb. 13) aus dem
Jahr 1899 sowie sein geknüpfter Seiden-
teppich aus dem folgenden Jahr (Abb. 14)
zeigen leicht und sicher geformte Jugend-
stilarabesken ohne jede Anlehnung an
ungarische Überlieferungen. Seine Schrank-
möbel, von denen wir hier zwei Original-
entwürfe (Abb. 15) und ein fertiges Stück
(Abb. 16) reproduzieren, weichen durch
ihre betont statische Konstruktion von den
französischen und englischen Vorbildern
ab.
Einen anderen Weg beschreitet sein Zeit-
genosse Ede Thoroczkai Wiegand (1870 bis
1945), der sich außer der Inneneinrichtung
mehrerer öffentlicher Bauten hauptsächlich
mit Entwürfen für Landhäuser, lnterieurs
und Möbel beschäftigte (Alub. 17). Letztere
wahren in ihren Formen Reminiszenzen an
die siebenbürgischen Holzbauten und die
Volkskunst, während sie in technischen
Belangen die Verfahren gezimmerter Schreie
nerarbeiten übernehmen.
Der in XYien geschulte Ödön Paragd
(1869il935) verwendet zur Schnitzwerk-
(lekoration seiner Älöbel, zu seinen Preß-
leder- und Textilentwiirfen (Abb. 18)
konkrete Vollcskunstornamente in stilie
sierter Form, ohne durch Berlützung dieser
Elemente den strukturellen Aufbau der
bctreHenden Gegenstände zu beeinHussen.
Pin Pendant seiner eicherncn, mit Schnitz-
werk und getriebenen Beschlägen ver-
zierten Anrichte aus dem Jahr 1897 (Abb.
19) war auf der Pariser XWeltaLisstellung zu
sehen.
Neben dem reifen Jugendstil ol-lienbaren
sich verschiedene Richtungen der Llngari-
schen Stilbestrebungen in den charakteristi-
schen Keramiken dcr Pecscr Zsolnay-
Fabrik. Bezeiehnende Beispiele, die den
ersteren repräsentieren, sind die in aus-
gereiften, edlcn Proportionen gehaltene,
mit Pflanzenornarnenten in Flachrelief und
einer Ensinglasur versehene Schüssel (Abb.
21) und ein durch Verschmelzung mit einer
weiblichen Figur plastisch komponierter
Behälter, gleichfalls mit Ensinglasur aus der
Zeit um 1910 (Abb. 20). Demgegenüber
ordnen sich auf dem 189596 entstandenen
Krug (Abb. 22) Herzen, Tulpen und
Blattornamente, typische Motive der un-
garischen Volkskunst, im Farbkontrast des
Alabasterweiß, Rot und Eusin innerhalb
des sczessionistischen Kompositionssystems
zu einem attraktiven Dekor. Schließlich
zeigt die Zierschüssel mit ihrer reichen,
raumfüllenden, rhythmisch komponierten
Blatt- und Blütenornamentik aus den 1880er
Jahren (Abb. 23) Anklänge an die weiter
oben erwähnten Stilbestrebungen Ödön
Lechners, die den Forma und Komposi-
tionselementen des Jugendstils keinen
Raum bieten.
Wieder von einer anderen Seite tritt uns
die ungarische Sezession im künstlerischen
Schaffen des in Deutschland und Italien
geschulten Malers und Kunstgewerblers
Aladar Kiirösföi-Kriesch (1863?1920)
entgegen. Als einer der standhaftesten
Uorrisn-Xnhänger gründet er 1901 mit
staatlicher Unterstüwung ganz im Geiste
und nach dem Beispiel seines großen Vor-
bildes Älorris die Künstlerkolunie und