und des Kremser Stadttores, die ostlich des
Kirchenchores der Minoritenkirche zu erwarten
waren, fügt Schiele hier ein viel weiter west-
wärts gelegenes Bauwerk an, nämlich die
Frauenbergkirche, diese außerdem so, daß sie
tiefer als das Minoritenkloster zu liegen kommt,
was einen weiteren Widerspruch bedeutet. Die
Kirche selbst ist jedoch in allen Details richtig
gezeichnet: die Geschoßeinteilung, die Fenster
und auch der Chor (wenn man von der Kleinig-
keit absieht, daß wir eine zweite Dachluke gegen
das Chorhaupt vermissen). Uber die aus der
veränderten Situation resultierende Vorder-
grundlosung geht Schiele durch einige will-
kürlich eingefügte Dachflachen hinweg. Sie
sind für die Komposition jedoch nicht unbe-
deutend, da sie ihr eine gewisse Ruhe ver-
leihen. Ein Detail mag hier noch vermerkt
werden. Obwohl Schiele im Juni des Jahres
1913 in Stein war, malt er am linken Bildrand e
ebenso wie entlang der Lande bei der
besprochenen Studie, dürre Bäume, eine Vor-
liebe, die sich aus dem graphischen Emp-
finden des Künstlers erklart.
Vergleicht man mit diesem Bild die Studie
(Kallir Nr. 189, OlfHolz, 39,7 X315 cm, USA,
Privatbesitz, Abb. 6), dann hat man, was Format
und lntensitat der Auffassung betrifft, eine Ent-
sprechung zu dem ersten Bildpaar, und doch
ist die Lage verschieden. Die Studie ist der
wirklichen Situation näher. Dies zeigt die
Lage der Frauenbergkirche und die Dächer im
Vordergrund e obwohl sie nur ganz flüchtig
mit dem Pinsel hingestrichen sind. Ganz links
am Bildrand erkennt man zum Beispiel die
charakteristische Giebelsilhouette des Hauses
32
Frauenberg Nr. 22. Dieser Naturnahe ist aller-
dings entgegenzuhalten, daß Schiele auch bei
dieser Studie den Pfarrkirchenturm mit einem
einfachen Pultdach abschließt. Rechts am Bild-
rand sieht man die Westfront des Steiner Rat-
hauses. Auch das südliche Donauufer gibt ein
genaues Bild der Situation. Jenseits der Au
erkennt man die von Mautern nach Furth
führende Straße etwa in der Höhe der heutigen
Kaserne.
Was vermag uns nun der Vergleich dieser
beiden Ansichten zu sagen. Stärker noch als
beim ersten Bildpaar wird es deutlich, wie
Schiele mit den einzelnen Elementen der
studierten Realitäten frei schaltet. Es kann sich
dabei um kleine Korrekturen, um ein Zurecht-
rücken handeln, aber auch um ein Zusammen-
setzen zweier an sich nicht zusammengehöriger
Stadtmotive. Obwohl die Studie (Abb. 6) der
Situation gerecht wird, entfernt sie sich aber
doch in wesentlichen Punkten des Ausdrucks
viel mehr von der Natur. Ein dynamisches Ele-
ment zeigt sich auch hier in dem hoch über der
kleinen Stadt aufragenden Turm. Schiele geht
dabei in ganz ähnlicher Weise wie bei der
anderen Studie (Abb, 3) vor. Das Format gibt
das in sich ruhende Quadrat auf und streckt
die Proportionen in die Hohe. Die Stadt, die
bei der ausgeführten Arbeit (Abb. 4) mehr als
die Hälfte des Bildes füllt, ist bei der Studie auf
weniger als ein Drittel am unteren Rand zu-
sammengedrängt. Dem entspricht darüber ein
annahernd gleich hoher Streifen, nämlich das
Ufer am oberen Bildrand, So wird der Turm zu
einer Brücke, die den hellen Strom überspannt.
Es ist dabei für den Ausdruck nicht unwichtig.
daß die Spitze des Turmhelmes gerade das
jenseitige Ufer berührt und dadurch dieses
Emporstreben viel mehr betont, als würde der
Helm in das grüne Ufer hineinragen. Am Turm
selbst sehen wir auch einige bezeichnende
Veränderungen, er wirkt schlanker und höher.
was auf das Verhältnis zum Chordach zurück-
zuführen ist. Es reicht bei der Studie nur bis
zum zweiten Geschoß, während es beim
ausgeführten Bild (dies entspricht der Wirk-
lichkeit) bis zum dritten Turmgeschoß aufragt.
Die Dreieckskomposition ist bei der Studie
steiler, außerdem steht der Turm nun am rechten
Bildrand, gleichsam gegen die Strömung des
Flusses gestellt (ein Argument, das nicht über-
sehen werden sollte). In der malerischen Be-
handlung ist die Studie freier, wodurch die
angedeutete Intensität noch mehr gesteigert ist.
Wieder wandelt sich das topographisch in-
teressante Motiv einer mittelalterlichen Stadt
in ein Erlebnis von Turm, Stadt und Strom.
Es wiederholt sich genau das, was wir bei dem
Vergleich des ersten Bildpaares sehen konnten.
Mit dieser neuerlichen Bekräftigung haben wir
zugleich einen sicheren Ausgangspunkt für
einige Erkenntnisse, die uns etwas über das
Wesen von Schieles Kunst auszusagen ver-
mögen.
Naturvorbild und Vision
„Studien mache ich auch, aber ich finde und
weiß, daß Abzeichnen nach der Natur für mich
bedeutungslos ist, weil ich besser Bilder nach
Erinnerungen male, als Vision von der Land-
schaft." Diese Worte, die Egon Schiele am
25. August 1913 (im Juni dieses Jahres war
er in Stein) in einem Brief an Franz Hauer,
dem er im gleichen Jahr ein Städtebild von Stein
verkaufte, schrieb, können als ein Schlüssel zum
Verständnis seiner künstlerischen Absichten
gelten. Otto Kallir hat diese Briefstelle in seiner
Publikation: Ein Skizzenbuch von Egon Schiele
(A Sketchbook by Egon Schiele), Johannes
Press, New York 1967, Seite 42, mitgeteilt.
Der gleichen Veröffentlichung verdanken wir
noch einen weiteren Hinweis, nämlich die
Publikation einer Zeichnung (Abb. 7), die sich
auf den Seiten 27 und 28 dieses Skizzenbuches
befindet. Sie zeigt die Frauenbergkirche vom
Steiner Kreuzberg aus und wurde mit der Studie
Abb.6 in Verbindung gebracht. Die Zeichnung
ist jedoch viel verwandter mit dem ausgeführten
Ölbild (Abb. 4). Dafür spricht die links vom
Turrn sichtbare Donaulände und der Umstand,
daß am oberen Bildrand nur ein schmaler Ufer-
streifen sichtbar ist. Doch schon melden sich
auch Widersprüche: das rechts vom Turm
befindliche Dach, das Fehlen des Kirchenchores
und das an der Nordseite unter dem Turmhelm
angebrachte Zifferblatt der Uhr, das in Wirklich-
keit nicht existiert. Aus einem solchen Vergleich
ergeben sich zwei Folgerungen: die Zeichnung
in dem Skizzenbuch wurde nicht vor der Natur
gemacht, sie ist auch keine Vorstudie für eines
der ausgeführten Bilder, sondern die Notiz für
eine Bildidee, die in dieser Form nicht zur Aus-
führung kam.
Die Suche nach unmittelbaren Naturstudien
Schieles in seinen Skizzenbüchern ist - zu-
mindest was konkrete Ansichten betrifft e
nicht sehr erfolgreich. Am ehesten gibt das im
Schiele-Archiv der Wiener Albertina unter
Nr. 3 verwahrte Skizzenbuch einen Anhalts-
punkt. Auf der ersten Seite sehen wir die Skizze
(Abb. 8) für ein Bild von der Ruine Weitenegg,
die etwa um 1916 entstanden sein dürfte. Daß
es sich um eine unmittelbare Eintragung vor
der Natur handelt, beweisen die neben der
Zeichnung stehenden Worte „Ruine Weitenegg
- zwischen den Bäumen sitzen in Reihen . ..
(Büsche?) - in Gruppen spielen bunte Kinder,
rosa, weiß. Die Ruine graugelb, teilweise zer-
kratzt und zerfallen wie Torten. - Rückwärts
der weiße Fluß mit Kähnen. - Weit drüben grüne
Wiesen und Berge und Streifenhimmel. Die
Bäume vorne sind grün und die Wiesen. 7
Rudernde Männer." Neben den letzten Worten
befindet sich noch die Zeichnung eines Kahnes.