ä"-
ä
2
ä
Hermann Exner
KUNST IST EIN
BIOLOGISCHER WERT-
RICHARD NEUTRA
UND SEINE BAUTEN
lkirhard j. Nculra, Fericnhcixn im Flachland; Km
platz mir Ausblnck auf einen künsllichm See
„Als ich acht Jahre alt war, mußte ich
mich bereits entschieden haben, Architekt
zu werden, ohne cs in meinen Gedanken
ganz klar erfassen zu können. Meine un-
ausgesprochene Entscheidung war das Er-
gebnis einer Fahrt in unserer neuen, viel
diskutierten U-Bahn, deren Bahnhöfe von
Otto Wagner entworfen waren. Nach sehr
kurzer Zeit war ich von ihm, seinen Bauten
und seinen Kämpfen gegen die starke
Opposition und den Spott der Öffentlich-
keit begeistert. Für mich war er Herkules,
Achilles und Buffalo Bill, für mich ver-
körperte er alle Helden und Sucher, alle
bestraften prometheischen Opfer, die an
den Kaukasus, den Atlas oder sonstige
Marterpfähle im Dschungel der Rück-
ständigkeit gekettet lagen - sie alle in
diesem Menschen vereint."
Diese Bewunderung galt einem bis zu
seinem 50. Lebensjahr sehr erfolgreichen
Eklektizistcn. Aus eigener Erkenntnis ohne
Vorbilder wandte er sich dann vorn
Historismus des 19. Jahrhunderts ab, der
nach dem Bau der Ringstraße das Bild der
Wiener Innenstadt beherrschte. Bereits 1895
rief er seine jungen Kollegen auf, selbst-
bewußter gegenüber der Vergangenheit zu
sein. Zwecke, Materialien und Konstruk-
tionen sollten sie als Grundlage ihrer
Entwurfsarbeiten betrachten. Die aus diesen
Prämissen entstehende Form würde ihnen
dann schon von selbst in die Feder fließen
und leicht verständlich sein, lehrte er. Mit
diesen Anschauungen vermied er zum
guten Teil die Sackgasse des damals so
einflußreichen Jugendstils.
Mit dem in seiner Weise noch konsequen-
teren Adolf Loos, der fast mehr durch
seine Schriften als durch seine Bauten
wirkte, pflegte der junge, bewundernd
aufmerksame Neutra freundschaftlichen
Verkehr. Noch heute nennt er sich seinen
Jünger. Nicht weniger stark wirkten über
10.000 km Entfernung Veröffentlichungen
über die Amerikaner Louis A. Sullivan und
Frank Lloyd Wright in Zeitschriften und
Büchern auf ihn ein. Beiden Architekten
trat er dann in Amerika auch menschlich
nahe. In den gleichen Jahren ließen ihn,
mehr aus Gewohnheit als aus tiefer Über-
zeugung, die damaligen „Baukunsfi-Pro-
fessoren der Technischen Hochschule un-
entwegt antike Tempel bis ins letzte Detail
sauber nachzeichnen. Römisch-vitruviani-
sche geometrische Wiederholsamkeit fand
Neutra. viel zu wenig frisch, hellenisch-fein
sinnlich. Immerhin vermittelte das Studium
eine anerkennungswerte Ingenieur-Ausbil-
dung bei Hugo Saliger. Es schloß 1917
mit dem „dipl. ing. summa cum laude" ab.
Wilhelm Wundts „Grundzüge der phy-
siologischen Psychologie" entdeckte er
nebenher, aber für ihn sogleich bedeutsam,
in der Universitätsbibliothek. Die bereits
1874 erschienenen Untersuchungen des
Leipziger Psychologen über die Einflüsse
der Außenwelt - vermittelt durch
Sinne i auf das Physiopsycliische
Menschen begeisterten ihn. Hier fand
Erkenntnisse, die später mithalfen, ihn
Planer und Gestalter weit und origii
über seine Vorbilder hinauszuführen.
Für den aus dem k. k. Militärdienst t
lassenen 27jährigen Artillerieoberleutn
begann die Praxis nicht sehr verheißun
voll in Zürich. Sorgfältiger, begeistei
Gärtnerbursche und Zeichner Waren
ersten „P0siti0nen". Die Schweizer l
tropole erwies sich in der Folge jedi
als eine der wichtigsten Etappen sei
beruflichen Aufstiegs. Hier lernte Rich
Neutra die Sängerin und Cellistin Die
Niedermann kennen, die sich mit imx
tieferer Einsicht in die Probleme
„Neuen Bauens" nach ihrer Heirat
ihm zu eine: nimmermüden Helferin x
wesentlichem Anteil an dem späteren (
schehen entwickelte. Berlin, wo Wa
Gropius, Mies van der Rohe und and
junge Architekten 7 allerdings m
am Reißbrett - zukunftsweisend wirkt
avantgardistische Holländer und Rus
kamen, bot die nächsten Stellungen. Es i
10 Jahre vorher schon für Otto Wag
ein stimulierender Platz gewesen. Mehr
ein Jahrzehnt später war es gerade Neu
der für Gropius und Mies durch se
Vorträge und persönlichen Bemühung
den Boden in Amerika vorbereitete und
zu ihrer Übersiedlung entscheidend beitr