der Feier. Trotz aller Entfernungen, trotz
aller Verschiedenheit, sind sie miteinander
als geistige Leistung eng verbunden und
verwandt. Die alte, an den Garden Apart-
ments 1925, am „Gesundheitshaus" 1927
bis 1929 schon weitgehend studierte und
gelöste Aufgabe, dem Menschen biologisch
denkbar intensiv zu dienen, stellt sich
Richard Neutra stets aufs ncue. So führt
jeder Auftrag ihn zu einem originären,
von keinem Schema abgeleiteten ursprüng-
lichen Erlebnis seiner Ästhesie, dem alte
ehrwürdigen, allsinnlichen, menschlichen
Wahrnehmungsvermögen und die Kunst
am Bau damit zu einem sich stets Wan-
delnden, sich stets vervollkommnenden bio-
logischen Wert.
Erfolgreich in ungezählten Konkurren-
zen 7 auch für große und größte Objekte i ,
beteiligte sich Neutra niemals an dem
Wettlauf um sensationelle Preise, deren
Ausschreibung auf „repräsentative Mam-
mutplastiken" und nicht auf Bauwerke,
erfüllt von organischem Leben, hinzielte.
Neutras Kunst zeigt kollektive Züge. Man
ist versucht, die Schönheit seiner Bauten
als „dialektisch" zu bezeichnen, da die
Gestaltbeziehung zwischen den Bauteilen,
ihr „ästhetischer Dialog" wichtiger ist als
das an sich Formenhaftc der einzelnen Bau-
und Einrichtungsdetails, die keinen in-
dividuellen, auf sich selbst bezogenen ge-
stalterischen Eigenwert anstreben. Meist
recht einfach in der optischen Erscheinung,
entstammen sie gewöhnlich der Industrie-
Produktion oder zielen auf sie ab als
Prototypen, um sich später in großen
Mengen anfertigen zu lassen. So erwächst
der „biologische lebenswirkliche Kunst-
wert Schönheit" bei Neutra auch aus den
heutigen Produktionsbedingungen, aus den
Herstellungsvoraussetzungen unseres von
Großindustrie bedeutsam bestimmten wis-
senschaftlieh-technischen Zeitalters, dessen
bauliche Perspektiven in Amerika er selbst
in den frühesten Büchern von 1925 und
1930 so vorbildlich analytisch verfolgt hat
und schildert. Es ist die gesellschaftlich
richtige und mögliche Kunst-Schönheit
unserer Epoche. Der Massenproduktion
entstammend und daher irn Prinzip jedem
zugänglich, vermag sie, doch raturnaher
und menschlicher, die immerwährende Tie-
fen- und Breitenwirkung der Kunst in den
Zeiten der großen Stile zu erreichen, aller-
dings ohne das in den Klassengesellschaften
früherer Jahrhunderte oft sehr willkürliche,
harte „oktroy" von oben. Sfe vermag den
Menschen wieder in die Kunst einzu-
betten, sein Leben durch die Kunst zu
gestalten. Inmitten aller Normung will sie
ihm sogar erstaunlich individuelle Chancen
offen lassen!
Das physiopsychische Wohlsein des Men-
schen als Grundlage jeder individu-
ellen und gesellschaftlichen Entwicklung
hat dabei stets das Maß zu geben,
mit dem, in welchem Lande und unter
welchen gesellschaftlichen Verhältnissen
immer, alles zu messen ist.
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Schönheit der Gesamtanlage des bereits
erwähnten, in keiner Hinsicht veralteten,
immer noch vorbildlichen „Gesundheits-
hauses" von 1927 nennen. (Es widerstand
glücklich einem verheerenden Waldbrand.)
Diesmal führen einzelne Gebäude den
Dialog als ästhetisch gleichberechtigte,
gleichwertige Partner einer locker grup-
pierten, fast schon städtebaulichen Einheit.
Nicht einen Bau, eine „Bautenfamilie"
sehen wir vor uns. Richard Hamann, von
dem dieser Begriff stammt, verwendet ihn
für das „Obere Belvedere" in Wien und
stellt hier einen Zug ins Bürgerliche fest Z.
Richard Ncutra geht allerdings in der auf-
lockernden „Demokratisicrung" erheblich
weiter als sein großer Vorgänger Lukas von
Hildehrandt. Dr. Lovells Anwesen fehlt
die „Monumcntalisierung" durch Eekbau-
ten und die „Symmetrie" des Prinz-Engen-
Palastes, denkmalhafte Reste feudaler, ba-
rocker Repräsentationskunst.
Natürlich knüpft der „]ünger" von Otto
Wagner und Adolf Loos nicht unmittelbar
an die Bauideen der Fischer von Erlach
und Lukas von Hildcbrandt an. jedoch
läßt sich wohl ein ästhetisch erzieherischer
Einfluß des Wiener Barock nicht ganz
wegdenken, dem er schließlich ebenfalls
ZO Jahre unterlag, selbst wenn ihm das
nicht so bewußt geworden sein mag wie
bei jenen Stadtbahnhöfen. Ausgerechnet
der Österreicher unter den überragenden
Erneuerern, die dem Bauen unserer Epoche
eine gegenüber den Zeiten der Stilkunst -
sie umfaßten fünf Jahrtausende - geradezu
kopernikanische Wendung gaben, fällt auf
durch eine gewisse lockere Eleganz und
sinnenhaftc Fröhlichkeit seiner Bauten. Das
ist bestimmt kein Zufall.
Richard Neutras Werke stehen in aller
Welt. Leider nicht eines von ihnen neben
denen der Bamckmeister seines Vater-
landes. So bleiben uns unmittelbare reiz-
volle Vergleiche, aufschlußreiche Einsich-
ten in die Kontinuität österreichischen
Bauens in anziehender Landschaft durch
die Jahrhunderte, besonders aber beim
Übergang zur Moderne, zumindesfsoweit
es die Arbeit Richard Neutras betrifft,
versagt. Das ist besonders bedauerlich,
weil sie ganz andere Zielsetzungen auf-
weist als der sogenannte internationale
Stil, welcher der Natur sehr kühl gegen-
über steht.
Noch umfangreicher, empfindlicher und
nachwirkender sind Verluste, die jungen,
begabten Österreichischen Architekten und
damit dem Bauen ihres Landes durch den
Ausfall an Inspiration und geistig-ästheti-
schem Training entstehen, welche Neu-
tra'sche Schöpfungen als Werke großer
Kunst zu vermitteln vermögen. Bund und
Länder werden jetzt begabte Stipendiaten
weit in die Welt schicken müssen, wenn
sie das Oeuvre eines Wieners studieren,
sich an ihm bilden und ausbilden wollen,
den der geniale italienische Konstrukteur
Luigi Nervi den bedeutendsten lebenden
Architekten der Welt nannte.
ANMERKUNGEN
'Si:he im nachfolgenden ein Zitat zus einem höchst
inleresantcn kürllichcn Brief des Auftxzggelxxs -,
40 Jahre Spilrr, m, gleichzrilig rnil der am" Mond-
landuug, du: Libraxy 01' (Dongrcss, die Staatsbibliothek in
Washington, dies bcrühmlc Gcbiud: zum historischen
Monument ctkline. "Wie S!) oft, haben amerikanische
Exfolgc ausländische Autoren . . . --
1 Richard Hamann, Geschichte der Kunst, ud. u, s. 702.