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Volltext: Alte und Moderne Kunst XV (1970 / Heft 108)

baren Hinweis auf ihren Ursprung. Er wird 
dort zu suchen sein, wo mit dem Erstarken 
der hiysterienkulte und dem Aufkommen 
des Christentums als Folge der allgemeinen 
Krisenstimmung im absterbenden Imperium 
eine neue seelische und zugleich kultliche Hal- 
tung des Gläubigen zu seiner Gottheit erfolgte. 
Die Frontalität ist, wiederholen wir es, keine 
beliebige Körperhaltung. Sie ist von einem 
bestimmten, intensiven Aussagewillen erfüllt; 
eine bestimmte Bedeutung kommt ihr daher 
zu. Panofskys Wort, daß „jede Kunsrform 
sich einem Gesamtentwurf unterordnet, dieser 
aber letztlich theologisch-philosophischer Her- 
kunft ist", bewahrheitet sich, mutatis mu- 
tandis, auch hier Z6. 
Wie stcht es mit dem Formmotiv der Fron- 
talität im weiteren Verlauf der Geschichte? Im 
Mittelalter war es ein beherrschendes Niotiv, 
mit der Säkularisierung der Kunst nimmt sein 
Vorkommen ab. In bestimmten Themen des 
Kultbildes behält diese hieratische Körper- 
haltung weiterhin ihre Gültigkeit. Aber die 
Dreieckstruktur des Bildganzen wird neuer- 
dings in Frage gestellt. Giotto, wie in vielem 
anderen, ist auch hier bahnbrechend. Auch er 
kennt und verwendet die Frontalität in ihrer 
reinsten Form in seiner „Majestf, wo die 
leichte Neigung und Drehung des Kopfes 
durch die starre Symmetrie doch letzten Endes 
annulliert wird. Aber in seinen Fresken bricht 
der Künstler radikal mit der alten Tradition. 
Er verwendet eine außergewöhnlich reiche 
Skala an Körperbewegungen und Körper- 
drehungen, vor allem aber ist hier, wie kaum 
sonst, der menschliche Blick in seiner ganzen 
Bedeutung erfaßt und wird zu einem bewußt 
verwendeten, wichtigen konstitutiven Aus- 
drucks- und Kompositionselemcnt im XWerk; 
wie z. B. in der Darstellung des „Stabwunders" 
(Abb. 4) in der Arenakapelle die gespannte 
Erwartung der Frcicr durch die Schrägkom- 
position, in der alle Formelemente nach dem 
Altar zielen, auf ihn gerichtet sind: die cres- 
cendoartig sich steigernden Rüekensilhouetten, 
die schragführenden Kompositionslinien, die 
in der Stäbchenpyramide sich todlaufen, wohin 
auch der gespannte Blick aller Augen ge- 
richtet ist, ist nur ein Beispiel, aber ein sehr 
illustratives, wie wichtig Blickrichtung, Blick- 
intensität, mit einem Wort die Ausdruckskraft 
des menschlichen Auges für Giotto waren. 
Ähnlich sehen wir in der Darstellung des 
„Verrates", wie der Blick Christi und der 
Blick Judas durch ihre physische Nähe gleich- 
sam ancinanderprallen und sich so die Dra- 
matik des Geschehens in zwei Augenpaaren 
konzentriert. Ohne Zweifel ist für Giotto 
die psychologische Spannung menschlicher 
Situationen sehr weitgehend und in fast 
modernem Sinn erkannt; sicher versucht er 
auch ein reicheres physiognomisehes Spiel, 
vor allem scheint aber doch der Blick die 
neue „conditio humana" auszudrücken. So 
kommt es bei Giotto zu einem viel reicheren 
und subtileren Zusammenspiel der Protago- 
nisten. Zugleich aber wird der Beschauer 
aus diesem Spiel ausgeschlossen, wieder nimmt 
er nicht Teil am Bildgeschehen, wieder ist 
die Dreieekstruktur gesprengt. 7 Die frontale 
Komposition bleibt in der Folge nur Dar- 
stellungen höchsten Geschehens, Theophanien, 
vorbehalten: Raffaels Himmelfahrt, Tizians 
Assunta und eines der großartigsten: Grüne- 
walds Auferstehung (Abb. 18), sind einige 
Beispiele. Die Frontalität wird aber auch als 
Kompositionsschema für repräsentative Herr- 
scherporträts verwendet. Z. B. von Holbein; 
allerdings kann man nicht umhin, zu denken, 
daß die Frontalität hier mit einer gewissen 
Ironie verwendet ist. Aber das Selbstporträt 
von Dürer, das sich allerdings einen Epiphanie- 
charakter zuzulegen scheint, und auch das 
Porträt von Wolf Huber (Abb. 14) im Kunst- 
historischen Museum in Wien sind Beispiele 
eines anachronistischen XWeiterlebens der Fron- 
talität. Form ohne Inhalt. 
Im 17. und 18. und besonders im 19. jahr- 
hundert begegnen wir der Iirontalität in der 
bildenden Kunst immer seltener. Eine der 
großen bedeutungsvollen Ausnahmen sind 
Selbstporträts Rembrandts (Abb. 15) und ein 
Jahrhundert später der Gilles von Watteau 
(Abb. 16). Hier wurde ein ursprünglich reli- 
giöses Formelement ins Profane umgesetzt, 
ohne jedoch den transzendentalen Inhalt ein- 
zubüßen. Er lag nunmehr in der intimsten 
Sphäre des Menschlichen. Vielleicht erkennt 
man gerade hier die Ausdrucksgewalt der 
Frontalität. In holfnungsloser Verlorenheit ist 
die existentielle Not des Individuums, das 
sich und die Zeit in Frage stellt, dargestellt. 
Den Beschauer anblickend, reflektiert das Bild 
gleichsam den Beschauer: durch die Frontalität 
wird der Fragende zugleich zum Befragten. 
Älit dem Abbau der rationalistischen Welt- 
dcutung und der mit ihr ursächlich ver- 
knüpften hlimesis in der Kunst, in der zweiten 
Hälfte des 19. Jahrhunderts, erfährt das Motiv 
der Frontalität eine Neubewertung. Sie wird 
wieder ein bewußt verwendetes und nach- 
drückliches Formelement der Kunst, die sich 
von ästhetischen Werten, von der Delektation, 
immer mehr abwenclet, um sich metaphysi- 
schen, wenn nicht ontologischen Fragen zu- 
zuwenden. Damit ist die bipolare Struktur des 
Kunstwerks, die sich seit der Renaissance mit 
zunehmender Stärke durchgesetzt hatte, wie- 
der zugunsten der Dreieckstruktur aufgege- 
ben, wie wir sie mit dem Ende der antiken 
Welt und dem aufkommenden Christentum 
gesehen haben, und damit wird der Beschauer 
wieder integrierender Teil des Kunstwerks. 
Die zunehmende Verwendung der Frontalität 
seit dem 20. Jahrhundert hat W. Hofmann17 
ANMEIÄKUNGEN 26-27 
2'- E. Pzmufsky, Pandnras Box, Thc rhanging aspect am mythical 
Symbol, New York 1956. 
11 w. Hofmann. Zu einem Bildmixtel Edward Mnnchs, Am 
und Neue Kunst, III. jg., I. um, Wien 1954,
	        
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