punktisch" eine abstrakte Vignette. Durch
diese Gestaltung Mosers wird der Anspruch
der Zeitschrift auf buchgraphische Lösungen
deutlich unterstrichen.
Zunächst war die romantisch-naive Illustra-
tionskunst Mosers in „Ver Sacrum" einge-
flossen. Sie wies Ähnlichkeiten mit dem
Münchner Kreis auf, wobei als gemeinsame
Wurzel englische Illustrationen aus der Kunst-
zeitschrift „The Studio", vornehmlich von
Anning Bell, zu gelten haben. Der ausge-
prägte Buchschmuckstil der deutschen Künst-
ler aber hatte keinen Einfiuß auf Moser.
Einem in wachsenden, züngelnden und fließen-
den Formen manifestierten Pflanzenkult setzte
Moser schon frühzeitig die geschlossenere,
rundere Form entgegen. In einer Gedicht-
umrahrnung aus dem Jahre 1899 (Abb. 4)
wird dieser Unterschied sichtbar. Hier do-
minieren die knospenden, in sich zurück-
kehrenden Formen ohne scharfe, zielgerich-
tete Bewegung. Stengel biegen wieder um und
bilden Schlaufen und Kreise.
Einen kräftigen Vorstoß zu neuen Formen
des Buchschmucks unternimmt Kolo Moser
nach der Jahrhundertwende. Gegen Ende des
Jahres 1900 erscheint im „Ver Sacrum" eine
Kopfleiste zu einem Artikel über Fernand
Piet: eine Nixe und mehrere kleine Fischchen
schwimmen im perlenden Wasser (Abb. S).
Gesicht, Hände und die kugelrunden Fisch-
leiber entsprechen der bekannten Stilisierungs-
stufe, doch der übrige Korper der halb-
menschlichen Gestalt ist nicht mehr „abge-
leitet", sondern aus reinen Flächenformen
zusammengesetzt. Kurvig geschwungen sto-
ßen diese vom Grund ausgesparten Elemente
ohne Gelenke aneinander, und das verschlun-
gene Schwanzende besteht aus einzelnen, ge-
trennten Flächenformen. In dieser weitgehen-
den Zersetzung natürlicher Formen berührt
sich Mosers Stil mit dem der beiden Mack-
intosh, und es ist sicher kein Zufall, daß diese
Zierleiste zu jener Zeit entstanden ist, da die
schottischen Künstler Charles R. und Mar-
garet Mackintosh zusammen mit Herbert und
Frances Mc Nair, die unter dem Namen
„Glasgow Four" bekannt wurden, an der
großen Kunstgewerbeausstellung der Wiener
Secession im November 1900 teilnahmen. Wie
sehr nicht nur die Möbel und Interieurs der
Gäste - das Ehepaar Mackintosh wurde
während seiner Anwesenheit in Wien stür-
misch gefeiert - beeindruckten, sondern auch
ihre dekorativen Arbeiten, geht aus einem
zeitgenössischen Bericht hervor. Hermann
Muthesius erkannte das vollkommen Neue
dieser dekorativen Motive, und er schrieb in
einem Brief an den Herausgeber der „Kunst",
die im Feber 1901 einen ausführlichen Bericht
über die Wiener Ausstellung brachte, daß es
„keine Parallelen für die Verzerrung der
menschlichen Figur in der Ornamentgeschichte
gebe. Bisher sei die menschliche Figur nicht
in Linien gezeichnet worden, die wie der
Teig des Bäckers seien"4.
Noch einmal nimmt Moser ähnliche Motive
in einer Skizze im Österreichischen Museum
für angewandte Kunst (Abb. 7) und im letzten
Heft des Jahrgangs 1901 auf. Hier rahmt er
auf einer Doppelseite das Notenblatt zu „Des
Narren Regenlied" (Abb. 6). Symmetrisch
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schlängeln sich „Fischleiber" mit Frauen-
köpfen außen an den Seiten empor. Sie sind
aus gekrümmten Flächenstücken, die an ihren
Enden eingerollt sind, zusammengesetzt. Über
diesen vielteiligen „Körper" sind, um die
Illusion noch weiter zu zerstören, rote
Punkte verteilt. Auch im schmachtenden Aus-
druck der Gesichter ergeben sich Querver-
bindungen zu der ästhetisierenden Dekora-
tionskunst der Mackintosh, die zum großen
Teil von Margaret Macdonald, der Frau des
Künstlers, stammt.
Aber auch ein anderes Novum für „Ver
Sacrum" geht auf Kolo Moser zurück. Für
„Neue Fragmente" von Arno Holz, die unter
dem Titel „Die Blechschmiedc" abgedruckt
wurden, entwarf Moser erstmals typographi-
schen Buchschmuck (Abb. 8). Der Text wird
von schwarzen und weißen Quadraten be-
gleitet, die in immer anderen Variationen auf
keiner Seite dasselbe Muster entstehen lassen.
Diese Quadrat-Leisten wurden für die Wiener
dekorative Richtung zu einer spezinschcn
Eigenart und fanden für Raumgestaltungen
und auf den charakteristischen Kistenmöbeln
Hoffmanns und Mosers, die ab 1903 auch in
der Wiener Werkstätte hergestellt wurden,
Verwendung. Obwohl der geometrische Stil
Moser populär gemacht hatte und Hermann
Bahr berichtete, „die meisten meinten, er
habe das Schachbrett erfunden"5, fand er
außer in einem Plakat aus dem Jahre 1902
keine weitere ausschließliche Anwendung im
Buchschmuck.
Im fünften und sechsten Jahrgang von „Ver
Sacrum" sind eine Reihe von Holzschnitten
enthalten, in denen die menschliche Gestalt,
nun mit expressiven Gesichtszügen, wieder in
den Vordergrund rückt (Abb. 9). Trotzdem
ist der graphische Stil noch freier geworden,
in Verbindung mit einer kantig-splittrigen
Holzschnitt-Technik aber von dem musi-
kalischen Rhythmus und der Geschmeidigkeit
der Formen abgerückt. Der eigentliche Buch-
schmuck - die enge Verbindung von Text
und dekorativen graphischen Elementen M
war im letzten Jahrgang von „Ver Sacrum"
bereits stark in den Hintergrund getreten.
„Ver Sacrum" hatte 1903, als die Zeitschrift
mit Ende des Jahres eingestellt wurde, bereits
nicht nur den Überschwang des Beginns,
sondern auch die Kraft der Mitte verloren.
Die Bedeutung der Zeitschrift war erfüllt
worden.
Für Kolo Mosers graphischen Stil, der_ab
1900 immer stärker mit einem puren Flächen-
stil identisch wird, war die Mitarbeit an der
Zeitschrift der Wiener Secession von aus-
schlaggebender Bedeutung. In weit größerem
Maße als die übrigen Mitarbeiter - Hoffmanns
dekorative Leisten und abstrakten Muster
konnten selten ihre immanente StoElichkeit
verleugnen - bildete Moser in den Heften
von „Ver Sacrum" deutlich ablesbar einen
fortschreitenden Stil aus und entwickelte sich
in diesen sechs Jahren vom Illustrator zum
Buehschmuckkünstler. Noch Jahre später Fin-
den dekorative Elemente, die im Boden von
„Ver Sacrum" wurzeln, für graphische Lö-
sungen, wie die Briefmarkenentwürfe, An-
wendung.
ANMERKUNGEN 4-5
4 Zitiert bei Thomas Howarth, Ch. R. Mackintosh zuJd The
Modern Movcxncnt, London 1952,
5 Hermann Dahr, Tagebuch 1918, Innsbruck 1919, S. 261.