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Volltext: Alte und Moderne Kunst XV (1970 / Heft 108)

111106 LZUOSCCI 
DIE FRONTALITÄT - 
FORM UND BEDEUTUNG 
ANMERKUNG 1 
1 A. 11m1, Spälrömische Kunsti 
2 
duszrie, Wien 1927, S. 247. 
JCUCh 
Form bietet sich als eine Art Dreieckstruktur 
dar, gebildet aus dem Schöpfer, dem Werk 
und dem Beschauer. Das klingt wie eine 
Binsenwahrheit. Und doch ergibt sich bei 
genauerer Betrachtung, daß nicht jedes Werk 
aus allen diesen drei konstitutiven Faktoren 
besteht. Die Bildwerke vieler Großkulturcn, 
etwa die altorienmlischen der Hethiter, des 
pharaonischen Ägyptens und des Zweistrom- 
landes, haben sich mit einer bipolaren Struktur 
begnügt. 
So unwahrscheinlich dies auch scheinen mag: 
Der Beschauer war im Konzept des Werkes 
nicht mitinbegriHen. Das beweist zum ersten 
die Haltung der dargestellten Figuren. Diese 
sind nämlich ausschließlich aufeinander be- 
zogen und ganz der Illusionswelt, der sie 
angehören, und ihren Gesetzen unterstellt. Auf 
die Außenwelt, die Welt des Beschauers und 
ihn selbst, nehmen sie keinen Bezug. In den 
Werken der Malerei wie auch der der Relief- 
kunst dieser weiter oben beispielhaft heraus- 
gegriffenen Großkulturen besteht nur zwi- 
schen den dargestellten Figuren ein absichts- 
volles und klar durchschaubares Verhältnis, 
ein Auf-einander-bezogen-Sein. Mag es sich 
um religiöse Darstellungen oder epische han- 
deln, die Gestalten wenden sich immer nur 
einander zu, den Forderungen des Geschehens 
folgend, dem Beschauer aber zeigen sie ihr 
Prolil, ja nicht selten sogar den Rücken. So 
hat auch der Beschauer oft das Gefühl, gleich- 
sam unbefugt einem Vorgang beizuwohnen. 
Auf keinen Fall aber hat er Anteil an der 
Handlung oder am Sein der vom Künstler 
gestalteten Geschöpfe. Dieses Konzept herrscht 
in den obgenannten Kulturen durchwegs vor, 
nur in Griechenland muß die archaische Perio- 
de ausgenommen werden, hier herrscht ein 
deutliches Prädominieren der frontalen Hal- 
tung vor. Ob es sich hier um das handelt, 
was H. Seyrig (siehe weiter unten) eine 
„Primärphase" nennt, wo diese Haltung, weil 
leichter darstellbar, also gleichsam aus einem 
technischen Unvermögen gewählt wurde, ähn- 
lich wie es manche Forscher und aus gleichen 
Gründen bei Kinderzeichnungen sehen wollen, 
oder ob schon hier dieser Haltung ein be- 
stimmter Bedeutungsgehalt innewohnt, wird 
noch zu untersuchen sein. Sei dem wie immer, 
vorläufig kommt es darauf an, zu zeigen, wie 
unwichtig der Beschauer in diesen Kunst- 
kreisen ist. An einem Beispiel läßr sich dies 
paradigmatisch beweisen: die vielleicht schön- 
sten und großartigsten Werke der pharaoni- 
schen Kunst, die bildliche Ausgestaltung vieler 
Grabkammern in Oberägypten, wurden, kaum 
vollendet, wieder verschlossen und versiegelt. 
Das bedeutet, daß sie a priori für keinen 
menschlichen Beschauer vorgesehen waren. 
Die bipolare Struktur des Kunstwerkes ist 
hier in ihrer reinsten Form erkennbar. 
Indes geht um die jahrtausendwende im 
Kulturbereich des Östlichen Mittelmeeres eine 
grundlegende Wandlung vor sich. Die in 
der Kunst bisher übliche Prohlhaltung wird 
aufgegeben, und eine neue, bisher unbe- 
kannte Körperhaltung tritt an ihre Stelle. 
Die den vorangegangenen Perioden eigen- 
tümliche Körperhaltung ist bekannt, sie wurde 
bis zu einem gewissen Grad für den Stil 
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cmuantcustlsctl, Ja. äLllullux-llu. Uic AXIJLAVkAA" 
tion ist folgende: Der Kopf und damit das 
Gesicht erscheinen im scharfen Profil - das 
Auge ist allerdings in Vorderansicht dar- 
gestellt -, der Oberkörper ist en face, die 
Beine aber, von der Hüfte abwärts, wieder 
in reinem Profil. Ist in dieser doppelten 
Drehung der Oberkörper auch en face dar- 
gestellt, der Gesamteindruck wird durch das 
Profil des Gesichts und der nacheinander 
gestellten Beine bestimmt (Abb. 1, 2). Diese 
Konvention wird durch Jahrtausende - bis 
auf ganz geringe Ausnahmen - die herr- 
schcnde, ja die einzige sein, die in Werken der 
Malerei oder des Reliefs verwendet wurde. 
Hier muß nun eine wichtige Einschränkung 
gemacht werden. Wenn im folgenden von der 
Frontalität in der bildenden Kunst die Rede 
scin wird, so handelt es sich immer nur um 
Werke der Malerei und Reliefkunst. Nur hier 
kann und darf von Frontalität als einem 
Form- und Ausdruckselement die Rede sein. 
Die Rundplastik fällt in diesem Zusammen- 
hang weg. Diese Trennung zwischen Frei- 
plastik und Flächenkunst ist oft nicht be- 
achtet worden, was zu Mißverständnissen und 
Fehlbehauptungen geführt hat. Diese Tren- 
nung ist aber prinzipiell wichtig. Eine Frei- 
plastik ist inhaltlich a priori immer nur auf 
eine frontale Aufnahme geplant, auf eine 
frontale Sicht angelegt, auch dann, wenn es 
sich um eine bewegte, ja selbst spiralig kom- 
ponierte „iigura serpentinata" handelt. Diese 
kann allenfalls durch ihre Kompositions- 
dynamik den Beschauer zu einer Umgehung 
des Blockes veranlassen, der Beschauer kann 
formalästhetisch alle Ansichten des Blockes 
durch die bewegten Linien der Komposition 
genießen, doch ist wohl kaum anzunehmen, 
daß menschliche Figuren - und es handelt 
sich ja zumeist um eine anthropomorphe 
Plastik - ausschließlich für eine Rücken- 
ansicht oder auch nur Ptofilansicht angelegt 
waren. Ob es sich also um eine ägyptische 
Monumentalplastik, etwa die großartige Sitz- 
flgur des Cheops mit der Geierhaube im 
Museum in Kairo, oder um die ebenso groß- 
artigen Porträtstatuen König Gudeas von 
Sumer, heute im Louvre, den Zeus von 
Olympia oder um eine Freiplastik der Re- 
naissance handclt, es geht immer um das 
gleiche Prinzip: die freitäumliche, anthropo- 
morphe Plastik ist immer nur auf eine Vorder- 
ansicht angelegt, unabhängig von einer for- 
malen Bearbeitung des Blockes. Dargestellte 
Figur und Beschauer stehen einander gegen- 
über, und wenn sie sich auch nicht immer 
direkt ansehen, so haben sie inhaltlich, ikono- 
graphisch, immer Bezug aufeinander. 
Die Frontalität als formalästhetisches Phä- 
nomen stcllt sich nur dort, kann sich nur 
dort stellen, wo der Künstler die Wahl hat, 
der Beschauer aber keine. Wo die Entschei- 
dung des bildenden Künstlers unmißverständ- 
lich einer von den beiden Möglichkeiten - 
ProFil oder en face - den Vorzug gibt, diese 
aber dann für den Beschauer die einzige ist. 
Die Gestalten, denen wir in den pharaonischen 
Malereien, den Tempelreliefs in Ägypten und 
den Reliefs der babylonischen und assyrischen 
Königspaläste begegnen (Abb. 2), bieten sich 
immer nur in der oben beschriebenen Prof-il-
	        
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