Wilhelm Hein
ARABISCH-ISLAMISCHE
ORNAMENTIK
„Und was in srbwankender Ersrbeinung
srbnlebl, befestige! mit daurrnden Ge-
danken l" Goethe
I
Es kann nicht hoch genug eingeschätzt wer-
den, daß in den letzten Jahrzehnten Gelehrte
aus dem arabischen Kreise „in eigener Sache"
das Wort ergriffen haben 1. Denn wenn Europa
auch an Material genugsam gesammelt, ge-
sichtet, katalogisiert und Proben der Öffent-
lichkeit dargeboten hatZ, der Versuch, die
arabisch-islamische Ornamentik als Phänomen
zu deuten, ihre Besonderheiten zu charakteri-
sieren, Kriterien zu schaffen, Wesentliches
nicht nur als äußeres Merkmal, sondern als
innere Wahrheit zu erkennen und zu formu-
lieren, ja einen leitenden Faden in all der
Erscheinungen Flucht zu finden - ein solcher
Versuch ist ungleich seltener unternommen
worden. Die Autoren, die sich in Europa
dieser Aufgabe unterzogen haben, waren aller-
dings Gelehrte von Rang. Ich verweise nur
auf L. Massignonl, E. KühneH und C. j.
Lamm5. Sie haben die arabisch-islamische
Ornamentik „von der anderen Seite her" be-
leuchtet, interpretiert und so zu erklären
versucht, daß der Betrachter in Europa an
den Ornamenten nicht nur Freude empfinden
sollte, sondern daß dieses Empfinden sich
auch dem Bewußtsein mitteilen, die „Kunst"
dem Verstande zugänglich sein und der
Mensch vom anderen Menschen, dem mus-
limischen Künstler, die Aussage begreifen
sollte.
Da aber eine solche Aussage dem Menschen,
der betrachtet, nur deutlich spürbar werden
kann, wenn er den Künstler, der schafft, auch
von seiner menschlichen Seite her begreift,
das heißt, wenn er seine innere Haltung, die
geistige Einstellung, Welche dem Künstler zu
eigen ist, versteht, so bleibt wohl auch in alle
Zukunft dem Forscher und Interpreten genug
zu tun übrig. In der Gegenwart schöpfen
wir zusätzliche Belehrung aus zwei arabisch
geschriebenen Werken, in denen die Orna-
mente gleichsam als Symbole einer bestimmten
Lebenseinstellung gedeutet werden. Gleich-
zeitig lernen wir auch die Umstände kennen,
unter denen die Künstler lebten, und wir er-
fahren daraus, was ihre Gedanken beeinHußte
und ihre Hand führte. Die beiden Werke sind
die „Geheimnisse islamischer Ornamentik"
von Bist Firisß und die „Islamische Kunst"
von 'Abd al-'Aziz Marzük7. Die Studie von
Färis fördert sehr tiefsinnige Wahrheiten zu-
tage, wenn man sich dem arabischen Text
zuwendet. Es gibt wohl eine beigebundene,
französische Version, doch sie erschwert das
Verständnis eher. Sie ist für Europa gedacht
und hat sich das exoterische Gewand der
abendländischen Diktion angezogen. Der ara-
bische Text aber enthüllt die esoterischen
Gedanken des Dichters Färis. Denn Färis
hat sich vor allem als Dichter einen Namen
gemacht. Seine poetischen Fähigkeiten liehen
ihm die Kraft des Ausdrucks, seine Phantasie
2
faßte nach dem Wesensgehalt. Das zweite
Werk, die „Islamische Kunst", stammt von
dem Bagdader Professor "Abd al-"Aziz Marzük.
An ihm ist die Klarheit der Gedanken hervor-
zuheben. Marzük hat vor allem Gewicht
darauf gelegt, die Stellung des Islams heraus-
zuarbeiten, d. h. die Anregungen, Anweisun-
gen und Richtlinien, welche sich aus der
Religion und den daraus abgeleiteten Gesetzes-
normen für die Künstler ergaben, nachzu-
weisen. Ich werde die beiden Autoren oft
genug zitieren. Sie haben wesentlich dazu
verholfen, einen Leitfaden zu finden, der
durch das einfach erscheinende, aber sich
kompliziert gebende Gebilde hindurchführt.
Um das Ergebnis vorwegzunehmen: in all
den Gebieten, welchen sich die muslimischen
Künstler bevorzugt zuwandten, ob es sich
um Pflanzcnranken, geometrische Muster oder
um die ornamentalen Züge der Schrift handelt,
läßt sich überall ein Urelement, ein Substrat
erkennen: das Element „Linie". Gevriß,
Färis unterscheidet zwei Elemente, nämlich
lJaij und rarn, „Faden" und „Zweig". Aber
hinter bai; und rarnj, hinter Faden und Zweig,
verbirgt sich wieder das Einfachere, und das
ist die Linielß ja, man kann im Ganzen sagen:
die arabisch-islamische Kunst überhaupt ist
grundsätzlich Ornament, und die Ornamente
sind grundsätzlich „liniiert"! Ob die Linie
krumm, gebrochen oder gerade auftritt -
sie bestimmt das Wesen des Dekors, sie
zeichnet v0r9. Die Malerei, die vom Fleck
ausgeht, gibt es in diesem Sinne nicht. Die
„Linie" setzt sich so stark durch, daß sie alles
erfaßt. Sie gibt den Leitgedanken her, be-
wahrt dadurch vor Haltlosigkeit, fordert aber,
weil sie selbst abstrakt ist, aus dem wesen-
losen Abstrakten heraus immer wieder die
Darstellung ihrer selbst.
Ein durchaus abstraktes Problem? Gewiß.
Aber das Abstrakte in diesem Sinne mani-
festiert sich eben in der Arbeit des Künstlers
als so und nicht anders Gewordenes - ist ja
sein Werk nichts anderes als sein sichtbar
gewordener Gedanke. Und gerade das ist es,
das immer wieder dazu reizt, das Rätsel zu
ergründen. Denn um zu verstehen, muß man
den Triebkraften des Handelns, den Gedanken,
nachspüren! Und was hat „Linie" in der
unsichtbaren Welt der Gedanken nicht alles
für Bedeutung, wie heißt sie nicht den mus-
limischen Menschen, den Künstler, ihr zu
gehorchen! Hat doch der Prophet selbst eine
Linie als äußeres Zeichen der Ordnung, der
Orientierung eingesetzt, es ist die Kibla, sie
sagt dem Gläubigen, wohin er sich beim Gebet
zu wenden hat! Im übertragenen Sinne stellt
„Linie" nichts Geringeres als die Abfolge der
Generationen vor! Aus dieser machtvollen
Position heraus wird sie zum Leitfaden für
Herkommen, Brauch und Sitte, wird sie zur
alles beherrschenden Regel, an der festzu-
halten, die zu erlernen und die doch der Zeit
anzupassen ist. Die Linie als Regel regiert
und dirigiert in jeder Hinsicht! Sie ist so
stark im Denken verankert, daß sie, wie der
Bau der arabischen Sprache selbst bezeugt,
keine Ausnahmen kennt, keinen Kompromiß
duldet. Ihrer Logik folgt unter dem Bilde
des „Fadens" die philosophische Diskussion,
von ihr, gleich Trieben ausgehend, eröffnen
ZU DEN ABIilLl )UNGEN
Die arabisrlJ-islamisrbe Ornamentik berubt
auf dem Gedanken, den die Religion und
Geisleswell des Islarns bervorbrarbte.
Es entstanden keine absolut „rmmß Formen.
Xolrlze {u erfinden wäre den mnslimisrbezz
l Künstlern tulmblqlirb gewesen. Aber n'a: sie
vvrfanden und im Ifullzreire unter den
Völkern der ausgebendm Antik: annabuien,
das erfüllter: sie mit dem nemn Geist, der sie
l gugleirb mit der neuen Heilslebre beseelte.
In diesem Äinue envnvbs das Gepragr, das
wir als „neu" und „ljpisrb islamisclz"
, gegenüber den vorangehenden Farmen ein-
stufen. Ans dem Xrboß der arabischer:
Mutter kommend, vlanderren die Geistes-
kinder über die gerannt islnmiszll: lVelt.
, Die einmal gefundenen Prinzipien verbreiteter:
l sirb und bebiellcn Geltung bis auf den
benligen Tag - sie sind alle und moderne
Kunst im lvalirslen .l'inn du llibrtes
geblieben.
An der gemeinsamen Entwicklung nabmen
zur Zeit der Ilurbblüte unter den Ommajaden
und Abbasidm viele l 'o"lker teil. Narb dem
.l'inken und Verfall der arabisrlierx Zentren
infolge dvr Älarlgvlerlzirxbrüclle wurden
Türken und Perser {n I Iailptträgern der
islamisrben Kunst. Unter ilmen entstanden
urabl nationale Higmbeiten, dorll winden
die Grundzüge der islaminben Ornamentik
inmzer beibebalten.
Die Gebiete, denen sirb die Künstler
bevorzugt zuwandten, Waren der geornetrisrbe
l Dekor, die Gestaltung der Xrbrifl und die
Darstellung [ijlanglirlirr Älative.
[interteilung der cinqelilru Abbildungsgrnppen:
I Geomerrirrber Dekor, Abb. 2- 7
II Jibrift als Ornament, Abb. 8- 12
III Pflanglirbe Motive, Abb. 11-15
I V Die Art zu JBIIEIIJ Perspektive an Pflang.
Ällensrbcn und Tieren, Abb. 16 --2I
V Die mensrblirbe Figur, Tiere und Vogel,
Abb. I, 22-28
VI Liebe {um Detail, Abb. 29
(Die Abbildungen sind leillveise rbronologiub
geordnet)
1 Fülle der Motive auf der Schale des Muhammad aus I
über grundierenden lkrlukcu ist eine jagdszene mit
in einer Landschaft ein raviert. Datiert 1643 n. Chr.
verzinnt. D 26 und .5 cm, H H m1. Osterreir
Museum fur angewandte Kunst. Wien, lnv. Nr. l
ANMERKUNGEN 1-11
l Über die Entwicklung der lSllnliSChllli Hochschulen
gemeinen vgl. H. L. Gottsrlnlk. Die Entwicklung d.
senschaft uud der Universitäten in den arabischen L
Button 1961. H. 4. s. er.
1 Vgl. die in der "Bibliographie" von K. A. C. Crcs
bibliugnphy of the architectur ans und crafts of l
ist Jan. 1950. Amerirmll U versity at Cairo Pres
unter nOmament", Spalte 963m. angegebenen I
und Werke.
1 Les Methode: de realixnlityn arusliquc des pcuples de
sym ll, 1921. S. 47H".
4 Die Arabeske. sind und Wandlung eines Ornalnents
baden 1'149.
S Thr Spirit of Muslim An. Dit- Siudie ist s. ist bei
(s. u.) angegeben.
ß sirraz-znllm il-isluluiiio, Kairo 1952.
1 foml nI-isllll Bagdad was.
ß SChOH K hucl hat in seiner "Arabcske" mehrfach d
der Linicil lliudurrhgcspiirl.
q In den schcnlunscllelu z llullgeu dcr rollenden
trefflich nachgewiesen h Sarrc-Trcnkwald, Altoricl
Teppiche. Wien 192a - 1922i.
w Die „Linie der r-duukeue {Ihm llt-tnfkir) wird au:
noch gerne gesucht und fesigchalrctl. Man verglei
den Leitartikel voll ul-illuulu vom 9. Xl. 1969:
H Dus Verhältnis der geraden zu den krummen und gebt
Linien scheint dasselbe zu seid wie das Verhältnis d:
Eins zu allen anderen. folgenden Zahlen. Üthll aus
(: Gottheit) ehcn nach der Lehre der Mystiker alle
Zahlen (: Sclüpfung) hervor.