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Volltext: Alte und Moderne Kunst XV (1970 / Heft 109)

Wilhelm Hein 
ARABISCH-ISLAMISCHE 
ORNAMENTIK 
„Und was in srbwankender Ersrbeinung 
srbnlebl, befestige! mit daurrnden Ge- 
danken l" Goethe 
I 
Es kann nicht hoch genug eingeschätzt wer- 
den, daß in den letzten Jahrzehnten Gelehrte 
aus dem arabischen Kreise „in eigener Sache" 
das Wort ergriffen haben 1. Denn wenn Europa 
auch an Material genugsam gesammelt, ge- 
sichtet, katalogisiert und Proben der Öffent- 
lichkeit dargeboten hatZ, der Versuch, die 
arabisch-islamische Ornamentik als Phänomen 
zu deuten, ihre Besonderheiten zu charakteri- 
sieren, Kriterien zu schaffen, Wesentliches 
nicht nur als äußeres Merkmal, sondern als 
innere Wahrheit zu erkennen und zu formu- 
lieren, ja einen leitenden Faden in all der 
Erscheinungen Flucht zu finden - ein solcher 
Versuch ist ungleich seltener unternommen 
worden. Die Autoren, die sich in Europa 
dieser Aufgabe unterzogen haben, waren aller- 
dings Gelehrte von Rang. Ich verweise nur 
auf L. Massignonl, E. KühneH und C. j. 
Lamm5. Sie haben die arabisch-islamische 
Ornamentik „von der anderen Seite her" be- 
leuchtet, interpretiert und so zu erklären 
versucht, daß der Betrachter in Europa an 
den Ornamenten nicht nur Freude empfinden 
sollte, sondern daß dieses Empfinden sich 
auch dem Bewußtsein mitteilen, die „Kunst" 
dem Verstande zugänglich sein und der 
Mensch vom anderen Menschen, dem mus- 
limischen Künstler, die Aussage begreifen 
sollte. 
Da aber eine solche Aussage dem Menschen, 
der betrachtet, nur deutlich spürbar werden 
kann, wenn er den Künstler, der schafft, auch 
von seiner menschlichen Seite her begreift, 
das heißt, wenn er seine innere Haltung, die 
geistige Einstellung, Welche dem Künstler zu 
eigen ist, versteht, so bleibt wohl auch in alle 
Zukunft dem Forscher und Interpreten genug 
zu tun übrig. In der Gegenwart schöpfen 
wir zusätzliche Belehrung aus zwei arabisch 
geschriebenen Werken, in denen die Orna- 
mente gleichsam als Symbole einer bestimmten 
Lebenseinstellung gedeutet werden. Gleich- 
zeitig lernen wir auch die Umstände kennen, 
unter denen die Künstler lebten, und wir er- 
fahren daraus, was ihre Gedanken beeinHußte 
und ihre Hand führte. Die beiden Werke sind 
die „Geheimnisse islamischer Ornamentik" 
von Bist Firisß und die „Islamische Kunst" 
von 'Abd al-'Aziz Marzük7. Die Studie von 
Färis fördert sehr tiefsinnige Wahrheiten zu- 
tage, wenn man sich dem arabischen Text 
zuwendet. Es gibt wohl eine beigebundene, 
französische Version, doch sie erschwert das 
Verständnis eher. Sie ist für Europa gedacht 
und hat sich das exoterische Gewand der 
abendländischen Diktion angezogen. Der ara- 
bische Text aber enthüllt die esoterischen 
Gedanken des Dichters Färis. Denn Färis 
hat sich vor allem als Dichter einen Namen 
gemacht. Seine poetischen Fähigkeiten liehen 
ihm die Kraft des Ausdrucks, seine Phantasie 
2 
faßte nach dem Wesensgehalt. Das zweite 
Werk, die „Islamische Kunst", stammt von 
dem Bagdader Professor "Abd al-"Aziz Marzük. 
An ihm ist die Klarheit der Gedanken hervor- 
zuheben. Marzük hat vor allem Gewicht 
darauf gelegt, die Stellung des Islams heraus- 
zuarbeiten, d. h. die Anregungen, Anweisun- 
gen und Richtlinien, welche sich aus der 
Religion und den daraus abgeleiteten Gesetzes- 
normen für die Künstler ergaben, nachzu- 
weisen. Ich werde die beiden Autoren oft 
genug zitieren. Sie haben wesentlich dazu 
verholfen, einen Leitfaden zu finden, der 
durch das einfach erscheinende, aber sich 
kompliziert gebende Gebilde hindurchführt. 
Um das Ergebnis vorwegzunehmen: in all 
den Gebieten, welchen sich die muslimischen 
Künstler bevorzugt zuwandten, ob es sich 
um Pflanzcnranken, geometrische Muster oder 
um die ornamentalen Züge der Schrift handelt, 
läßt sich überall ein Urelement, ein Substrat 
erkennen: das Element „Linie". Gevriß, 
Färis unterscheidet zwei Elemente, nämlich 
lJaij und rarn, „Faden" und „Zweig". Aber 
hinter bai; und rarnj, hinter Faden und Zweig, 
verbirgt sich wieder das Einfachere, und das 
ist die Linielß ja, man kann im Ganzen sagen: 
die arabisch-islamische Kunst überhaupt ist 
grundsätzlich Ornament, und die Ornamente 
sind grundsätzlich „liniiert"! Ob die Linie 
krumm, gebrochen oder gerade auftritt - 
sie bestimmt das Wesen des Dekors, sie 
zeichnet v0r9. Die Malerei, die vom Fleck 
ausgeht, gibt es in diesem Sinne nicht. Die 
„Linie" setzt sich so stark durch, daß sie alles 
erfaßt. Sie gibt den Leitgedanken her, be- 
wahrt dadurch vor Haltlosigkeit, fordert aber, 
weil sie selbst abstrakt ist, aus dem wesen- 
losen Abstrakten heraus immer wieder die 
Darstellung ihrer selbst. 
Ein durchaus abstraktes Problem? Gewiß. 
Aber das Abstrakte in diesem Sinne mani- 
festiert sich eben in der Arbeit des Künstlers 
als so und nicht anders Gewordenes - ist ja 
sein Werk nichts anderes als sein sichtbar 
gewordener Gedanke. Und gerade das ist es, 
das immer wieder dazu reizt, das Rätsel zu 
ergründen. Denn um zu verstehen, muß man 
den Triebkraften des Handelns, den Gedanken, 
nachspüren! Und was hat „Linie" in der 
unsichtbaren Welt der Gedanken nicht alles 
für Bedeutung, wie heißt sie nicht den mus- 
limischen Menschen, den Künstler, ihr zu 
gehorchen! Hat doch der Prophet selbst eine 
Linie als äußeres Zeichen der Ordnung, der 
Orientierung eingesetzt, es ist die Kibla, sie 
sagt dem Gläubigen, wohin er sich beim Gebet 
zu wenden hat! Im übertragenen Sinne stellt 
„Linie" nichts Geringeres als die Abfolge der 
Generationen vor! Aus dieser machtvollen 
Position heraus wird sie zum Leitfaden für 
Herkommen, Brauch und Sitte, wird sie zur 
alles beherrschenden Regel, an der festzu- 
halten, die zu erlernen und die doch der Zeit 
anzupassen ist. Die Linie als Regel regiert 
und dirigiert in jeder Hinsicht! Sie ist so 
stark im Denken verankert, daß sie, wie der 
Bau der arabischen Sprache selbst bezeugt, 
keine Ausnahmen kennt, keinen Kompromiß 
duldet. Ihrer Logik folgt unter dem Bilde 
des „Fadens" die philosophische Diskussion, 
von ihr, gleich Trieben ausgehend, eröffnen 
ZU DEN ABIilLl )UNGEN 
Die arabisrlJ-islamisrbe Ornamentik berubt 
auf dem Gedanken, den die Religion und 
Geisleswell des Islarns bervorbrarbte. 
Es entstanden keine absolut „rmmß Formen. 
Xolrlze {u erfinden wäre den mnslimisrbezz 
l Künstlern tulmblqlirb gewesen. Aber n'a: sie 
vvrfanden und im Ifullzreire unter den 
Völkern der ausgebendm Antik: annabuien, 
das erfüllter: sie mit dem nemn Geist, der sie 
l gugleirb mit der neuen Heilslebre beseelte. 
In diesem Äinue envnvbs das Gepragr, das 
wir als „neu" und „ljpisrb islamisclz" 
, gegenüber den vorangehenden Farmen ein- 
stufen. Ans dem Xrboß der arabischer: 
Mutter kommend, vlanderren die Geistes- 
kinder über die gerannt islnmiszll: lVelt. 
, Die einmal gefundenen Prinzipien verbreiteter: 
l sirb und bebiellcn Geltung bis auf den 
benligen Tag - sie sind alle und moderne 
Kunst im lvalirslen .l'inn du llibrtes 
geblieben. 
An der gemeinsamen Entwicklung nabmen 
zur Zeit der Ilurbblüte unter den Ommajaden 
und Abbasidm viele l 'o"lker teil. Narb dem 
.l'inken und Verfall der arabisrlierx Zentren 
infolge dvr Älarlgvlerlzirxbrüclle wurden 
Türken und Perser {n I Iailptträgern der 
islamisrben Kunst. Unter ilmen entstanden 
urabl nationale Higmbeiten, dorll winden 
die Grundzüge der islaminben Ornamentik 
inmzer beibebalten. 
Die Gebiete, denen sirb die Künstler 
bevorzugt zuwandten, Waren der geornetrisrbe 
l Dekor, die Gestaltung der Xrbrifl und die 
Darstellung [ijlanglirlirr Älative. 
[interteilung der cinqelilru Abbildungsgrnppen: 
I Geomerrirrber Dekor, Abb. 2- 7 
II Jibrift als Ornament, Abb. 8- 12 
III Pflanglirbe Motive, Abb. 11-15 
I V Die Art zu JBIIEIIJ Perspektive an Pflang. 
Ällensrbcn und Tieren, Abb. 16 --2I 
V Die mensrblirbe Figur, Tiere und Vogel, 
Abb. I, 22-28 
VI Liebe {um Detail, Abb. 29 
(Die Abbildungen sind leillveise rbronologiub 
geordnet) 
1 Fülle der Motive auf der Schale des Muhammad aus I 
über grundierenden lkrlukcu ist eine jagdszene mit 
in einer Landschaft ein raviert. Datiert 1643 n. Chr. 
verzinnt. D 26 und .5 cm, H H m1. Osterreir 
Museum fur angewandte Kunst. Wien, lnv. Nr. l 
ANMERKUNGEN 1-11 
l Über die Entwicklung der lSllnliSChllli Hochschulen 
gemeinen vgl. H. L. Gottsrlnlk. Die Entwicklung d. 
senschaft uud der Universitäten in den arabischen L 
Button 1961. H. 4. s. er. 
1 Vgl. die in der "Bibliographie" von K. A. C. Crcs 
bibliugnphy of the architectur ans und crafts of l 
ist Jan. 1950. Amerirmll U versity at Cairo Pres 
unter nOmament", Spalte 963m. angegebenen I 
und Werke. 
1 Les Methode: de realixnlityn arusliquc des pcuples de 
sym ll, 1921. S. 47H". 
4 Die Arabeske. sind und Wandlung eines Ornalnents 
baden 1'149. 
S Thr Spirit of Muslim An. Dit- Siudie ist s. ist bei 
(s. u.) angegeben. 
ß sirraz-znllm il-isluluiiio, Kairo 1952. 
1 foml nI-isllll Bagdad was. 
ß SChOH K hucl hat in seiner "Arabcske" mehrfach d 
der Linicil lliudurrhgcspiirl. 
q In den schcnlunscllelu z llullgeu dcr rollenden 
trefflich nachgewiesen h Sarrc-Trcnkwald, Altoricl 
Teppiche. Wien 192a - 1922i. 
w Die „Linie der r-duukeue {Ihm llt-tnfkir) wird au: 
noch gerne gesucht und fesigchalrctl. Man verglei 
den Leitartikel voll ul-illuulu vom 9. Xl. 1969: 
H Dus Verhältnis der geraden zu den krummen und gebt 
Linien scheint dasselbe zu seid wie das Verhältnis d: 
Eins zu allen anderen. folgenden Zahlen. Üthll aus 
(: Gottheit) ehcn nach der Lehre der Mystiker alle 
Zahlen (: Sclüpfung) hervor. 
  
 
 

	        
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