A gnes Vayet-Zibolen
VIER UNBEKANNTE
BUCHILLUSTRATIONEN
MORITZ V. SCHWINDS
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In Anlehnung an ausländische, vornehmlich
Österreichische Vorbilder gelangte 1821 auch
in Ungarn ein schon seit langem fälligcs, schön
illustriertes literarisches Taschenbuch in unga-
rischer Sprache zur Veröifentlichung, dem, im
Gegensatz zu seinen kurzlebigen Vorgängern,
endlich eine jahrzehntelange Zukunft beschie-
den sein sollte. Daß es zuvor auf diesem Ge-
biet trotz redlichen Willens nur zu vereinzel-
ten, gelegentlichen Versuchen gekommen war,
kann kaum wundernchmen, vcrgegenwartigt
man sich die schwierige Lage des damals noch
jungen ungarischen Verlagswesens, das nicht
nur gegen die Gleichgültigkeit des heimischen
Publikums, sondern auch gegen die zahlreichen
Beschränkungen zu kämpfen hatte, die ihm
die Verordnungen des Wiener Hofes auf-
erlegten. Als Redakteur und Herausgeber des
unter dem Titel AURORA 1821 erstmals er-
schienenen, schön ausgestatteten Almanachs
zeichnete eine der vielseitigsten und bemer-
kenswertesten Persönlichkeiten des ungari-
schen Reformzeitalters, der namhafte Bühnen-
schriftsteller, Dichter und Publizist Karoly
Kisfaludy, der sich nicht nur als tatkräftiger
Organisator und Förderer des heimischen
Kunstlebens hohc Verdienste erwarb, sondern
auch selbst als Zeichner und Maler betätigte.
Den seit 1821 alljährlich erscheinenden Aur0ra-
Almanach ließ er von Anfang an von ein-
heimischen und Wiener Künstlern illustrieren
und ihre Zeichnungen von den namhaftesten
Wiener Graphikern in Kupfer stechen. Den
sechsten, 1827 datierten Jahrgang der Aurora
schmücken vier Illustrationen des damals noch
ganz jungen Wiener Meisters Moritz von
Schwind. Mit diesen unseres Wissens nur in
Kupferstichen erhalten gebliebenen, in den
Schwind-Monographien bisher nirgends er-
wähnten Illustrationen möchten wir die Kennt-
nisse um das frühe Wiener (Euvre des Meisters
erweitern.
Das Titelblatt des Bändchens trägt die Auf-
schrift „AURORA HAZAI ALMANACH
Kiada KISFALUDY KAROLY 1827" (Au-
rora Heimatsalmanach, herausgegeben von
Karoly Kisfaludy 1827). Als Verleger ist
Matyas Petrözai-Trattner zu Pest angegeben.
Außer zwei Seiten Notenbeilagen enthält das
Bändchen die bewußten vier Kupferstichc,
unter denen jeweils auf identische Art der
Name des Künstlers „v. Schwind del." ver-
zeichnet ist. Von den vier Zeichnungen wur-
den zwei von dem in Wien tätigen L. Poratzky,
eine vom Wiener Michael Hofmann und die
vierte von dem aus Böhmen stammenden, aber
in Wien geschulten Adolph Dworzack in
Kupfer gestochen. Das erste Bild ist keine
Textillustration, vielmehr eine allgemein ge-
haltene allegorische Komposition, die sich
offenbar an die üblicherweise von Kisfaludy
selbst vorgezeichneten, mit den Absichten und
Zielsetzungen des betreffenden Bandes über-
einstimmenden Richtlinien hiclt. Die Auf-
schrift dieses dem inneren Titelblatt voran-
gehenden Bildes lautet „Vatcrlandslicbcll. Eine
von drei Kindern umgebene weibliche Figur,
die fast das ganze mittlere Bildfeld ausfüllt,
weist mit dem Zeigefinger der erhobenen
Linken bedeutungsvoll auf das ungarische
Doppelkreuzwappen. Das am linken Bildrand
mit einem Knie auf den Boden gestützte Kind
wendet ihr den Blick zu und hebt mit der
Linken ein Schwert empor, das die ihm zu-
gewandte Frau mit der Rechten unterhalb der
Parierstange ergreift, gleichsam um das Kind
zu entlasten. An der anderen Seite erblickt man,
etwas weiter hinter der Bildmitte, einen eng
an die Frauengestalt geschmiegten, aufrecht
stehenden Knaben mit einer Leier. Rechts im
Vordergrund sitzt ein drittes Kind auf einer
Garbe, mit einem Ährengebinde im Schoß und
einer Sichel in der Rechten, das gleichfalls zur
zentralen Frauenfigur emporblickt. Indem die
Frau sich dem Schwerte zuwendet, erhält dieses
eine zusätzliche Betonung gegenüber der Leier,
dem Symbol der schönen Künste, und der den
Ackerbau versinnbildlichenden Sichel und
Garbe. Den romantischen Hintergrund der in
Dreiecksform angeordneten l-iguralen Kompo-
sition bilden eine efeubewachscne steinerne
Mauer, der verwitterte Rest eines zerbrochenen
profilierten Torbogens und in der Tiefe die
Silhouette einer mittelalterlichen Burg. (Als
Kupferstcchcr des Blattes zeichnet „L. P0-
ratzky sc.".)
Das nächste Bild ist eine Illustration zur „Blut-
hochzeit von Csakany", einer sentimentalen
Ballade des namhaften zeitgenössischen Dich-
ters und Verfassers der ungarischen National-
hymne Ferenc Kölcsey. Ort und Zeit der Hand-
lung ist die Burg Csakany an der Siidgrenze
des Landes während der Türkenherrschaft.
Hier wird eben die Hochzeit eines ungarischen
Kriegers mit einem ungarischen Mädchen ge-
feiert, als ganz plötzlich der türkische Feld-
hauptmann an der Spitze seiner blut- und
beutegierigen Soldaten in die Burg eindringt.
In dem Kampf, der sich nunmehr zwischen
den überrumpelten Hochzeitsgästen und den
in der Übermacht befindlichen Türken ent-
spinnt, verteidigen sich die ungarischen Reisi-
gen bis zum letzten Blutstropfen, zumal sie
sich des traurigen Loses bewußt sind, das ihre
jungen Frauen erwartet. Aus zahllosen Wun-
den blutend und am Ende seiner Kräfte kämpft
zuletzt nur noch der Neuvermählte, bis auch
er unter einem Keulenschlag tot zusammen-
bricht, worauf Hassan, der türkische Haupt-
mann, sich mit unverkennbarer Absicht der
hübschen jungen Frau nähert. Das Bild hält
jenen dramatischen Augenblick fest, in dem
die Vermählte mit mutiger Entschlossenheit
nach dem Schwert ihres toten Mannes greift,
um es in die eigene Brust zu stoßen, während
der seiner Beute schon sichere Türke Augen-
zeuge der blutigen Tat wird. Die in Kölcseys
Gedicht trotz der etwas schwerfälligen Sprache
deutlich fühlbare dramatische Spannung ver-
mag die eher idyllisch anmutende Illustration
nicht wiederzugeben. In der anmutigen Geste
der hübschen Braut und der eher maßvolle
Verblüifung als Erregung verratenden Haltung
des kaftanbekleideten Türken ist nichts von
der Atmosphäre des vorangegangenen Ge-
metzels, der verhängnisvollen Verzweiflungs-
tat der jungen Frau und des in Entsetzen
umschlagenden Triumphes des Türken ein-
gefangen. Diese Inkongruenz zwischen Wort
und Bild ist nicht der erste Fall in der Reihe
der Aurora-Illustrationen. Es kam ziemlich
häuhg vor, daß die zu einem ungarischen Text