Die in dem Almanach enthaltenen Illustratio-
nen Moritz von Schwinds finden bisher weder
in der Fachliteratur noch im (Euvre-Katalog
des Meisters Erwähnung. Daß selbst die
ungarische Forschung in den Vorlagen dieser
Stiche nicht Originalzeichnungen des jun-
gen Moritz von Schwind vermutete, findet
seine naheliegende Erklärung darin, daß zur
gleichen Zeit in Ungarn ein Graphiker und
Buchillustrator namens Karl Schwindt lebte
und wirkte, dem die heimischen Forscher die
bewußten Zeichnungen zuschriehen. Unsere
Attribution wird aber nicht allein von der
Künstlersignatur „v. Schwind" einwandfrei
bestätigt, sondern auch durch eine stilkritische
Untersuchung. Die Art und Weise der Linien-
führung, charakteristische Merkmale der Form-
gestaltung, die zarten, ihrem Ende zu merklich
verschmälerten Finger der Hände, elegant an-
mutige Frauengesichter, die ungebrochene
Fortsetzung der Stirnebene in der geraden
Nase, die sorgfältige Zeichnung der vornehm
herabfallenden Kleiderfalten verweisen selbst
vor dem Eingehen auf weitere Einzelheiten
unmißverständlich auf ihren Schöpfer und
ließen sich selbst in Unkenntnis des Almanach-
Jahrganges mit hinlänglicher Gewißheit da-
tieren. 1826, vor seiner endgültigen Über-
siedlung aus Wien nach München, war Moritz
von Schwind bereits im Vollbesitz jener künst-
lerischen Ausdrucksmittel, die er sich auf der
Wiener Kunstakademie von seinen Lehr-
meistern und dem Künstlerkreis, in dem er
verkehrte, angeeignet hatte. Seine Sicherheit
im Zeichnen verdankte er, neben dem fleißigen
Üben, den auf der Wiener Akademie noch
lebendigen und sorgsam gepflegten Mengs-
und Füger-Traditionen. Daher auch die in
seinen Zeichnungen zutage tretende klassi-
zistische Tendenz, die sich unter den hier be-
sprochenen vier Bildern am deutlichsten in der
symbolischen Titelblattkomposition „Vater-
landsliebe" erkennen läßt, aber auch für die
wolkenumhüllte himmlische Vision des jungen
Paares in der Illustration zu Vörösmartys
Gedicht bezeichnend ist. Freilich macht sich
in Schwinds künstlerischem Schaffen auch der
romantisch sentimentale Einfluß seines Lehr-
meisters Ludwig Schnorr von Carolsfeld gel-
tend. Es genügt, in diesem Zusammenhang
auf die romantischen Elemente seiner Kom-
positionen zu verweisen, die Ruinen und
anderweitigen architektonischen Details der
Bildhintergründe, die mystische Beleuchtung
der Interieurs und nicht zuletzt auf die unbe-
kümmerte Geringschätzung der kostüm- und
trachtengeschichtlichen Wirklichkeitstreue in
der Kleidung seiner Figuren. Neben diesen
klassizistischen und romantischen Einschlägen
tritt aber in der zuletzt besprochenen Illustra-
tion zur Rabenstein-Erzählung schon die per-
sönliche Note des Künstlers stärker hervor.
Der von den Schwindischen Waldlandschaften
ausgehende eigentümliche Zauber und gewisse
Frühbiedermeier-Tugenden des Meisters kom-
men in der intimen Stimmung der Gartenszene
schon ganz deutlich zur Geltung. Die zuweilen
recht anspruchsvollen Kompositionen und
zahlreiche feine Details der vier Buchillustra-
tionen lassen sich den schönsten Stücken seines
(Euvres getrost zur Seite stellen. Das findet
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z. T. darin seine Erklärung, daß es sich bei
diesen zwar im Vorhinein mit illustrativer Ab-
sicht, aber mit lückenhafter Kenntnis der zu
illustrierenden Textstellen geschaffenen Zeich-
nungen eher um selbständige Schöpfungen
handelt als um visuelle Veranschaulichungcn
des im Text Gesagten.
Bei dem Versuch einer angemessenen Ein-
ordnung der vier Almanach-Illustrationen in
Schwinds Gesamtwerk an Zeichnungen, Aqua-
rellen und Ölgemälden findet sich in den
zwischen 1820 und 1830 entstandenen Werken
eine Fülle verwandter Figuren und anderwei-
tiger Analogien, ähnlich geformter weiblicher
Gesichtszüge, identischer Gesten und wesens-
verwandter milieuformender Motive. Die alle-
gotische FrauenHgur der Vaterlandsliebe ge-
hört dem Quellennymphen-Typus an, die um
sie gruppierten drei Kinder könnten Brüder
der in den dreißiger Jahren gemalten Amoret-
ten der Figdor-Sammlung sein. Man könnte
sie mit gleichem Recht auch den Figuren des
Kinderfrieses in der einstigen Münchner Resi-
denz beigesellen, wenn auch in den für Kis-
faludys Almanach angefertigten Kupferstichen
manches von der ursprünglichen anmutigen
Frische und weichen Geschmeidigkeit der Kin-
derkörper verlorenging und erstarrte. Den
architektonischen Elementen des harmonisch
durchkomponierten Hintergrundes begegnet
man zwar in der gleichen Zusammenstellung
auf keinem anderen Bilde Schwinds, aber der
profilierte Torbogenrest, die Mauer mit den
sorgfältig gezeichneten Stein- oder Ziegelfugen
und die Silhouette der im fernen Hintergrund
emporragenden Burg gehören zum üblichen
Requisitorium der Schwind'schen Taschen-
buchillustrationen und Freskenentwürfe. Im
Interieur seiner Illustration zu Kölcseys „Blut-
hochzeit von Csakany" schufder junge Meister
mit Hilfe des von einer starken Lampe in der
Mitte des oberen Bildrandes einfallenden, vom
weißen Seidenvorhang des Hintergrundes und
vom hlütenweißen Atlaskleid der Braut re-
Hektierten Schlaglichtes eine in keinem seiner
anderen Werke wiederholte dramatische Atmo-
sphäre. Hingegen gibt es für die schön ge-
fügten, die Tiefenwirkung steigernden Boden-
diesen mehrfache Pendants in Schwinds Le-
benswerk. Varianten der für seine damalige
Schaffcnsperiode bezeichnenden raffaelesken
Frauenfigur mit dem Rosengewinde im Haar
begegnet man u. a. auf den Stichen der „Grä-
ber- und Todesgedanken" sowie auf dem
Deckblatt des „Taschenbuches für Vaterländi-
sche Geschichte". Das Spiegelbild des mit
vorgehaltenen Armen und gespreizten Fingern
vorwärtsschreitenden Türken erblickt man im
Faust des 1833 zu Bechsteins Faustus gezeich-
neten, „Liebe" überschriebcnen Blattes. Ana-
loge Motive, wie sie Schwind in der Illustra-
tion zu Vörösmartys „Feental" verwendet,
finden sich in dem 1822 geschaffenen „Traum
des Ritters" wieder. Das gleiche Thema griR"
der Meister um 1860 von neuem auf, doch
steht seltsamerweise die Haltung des schlafen-
den Ritters ebenso wie seine Gesichtszüge der
liegenden Figur der ,,Feental"-Illustration
näher als seinem Gegenstück im „Traum des
Ritters". Auf unserem Blatt hält der Sieger das
Schwert schlagbereit in der erhobenen Rech-
ten, während seine Linke einen Schild von
länglicher Rechteckform umklammert. Wie
eine der Figuren der Bilderfolge „Die Turniere
der Ritter" steht der Gepanzerte mit ge-
grätschten Beinen vor dem Besiegten. Einer
Analogie des eigenartigen Schildes begegnet
man in der Hand des Gubernators Hungariae
Johann Hunyadi in der im Auftrag Graf
Ferenc Nadasdys 1664 unter dem Titel „Mau-
soleum" in Nürnberg herausgegebenen Bilder-
galerie der ungarischen Herrscher, mit der
sich Schwind 1824 vertraut gemacht hatte, als
er diese Kupferstiche im Steindruckverfahren
auf Schieferplattcn übertrug. Der vierten hier
besprochenen Almanach-Illustration, der Bild-
beilage zur Erzählung „Rabensteinff, steht
„Das Käthchen von Heilbronn", ein im glei-
chen Jahr 1826 vollendetes Ölgemälde, am
nächsten, wenn es sich bei diesem auch keines-
wegs um eine thematische Verwandtschaft
oder kompositionelle Übereinstimmung han-
delt, sondern lediglich um eine inhaltsbedingte
Ähnlichkeit der in beiden Bildern geschaffenen
Stimmung, die in der identisch gestalteten
landschaftlichen Umgebung, im dichten Laub-
werk und in den Blumen der üppigen Vege-
tation ihren Ausdruck findet. Die gleich großen
Reproduktionen der beiden Bilder lassen uns
das unterschiedliche Format der Originale ver-
gessen und um so deutlicher die Ähnlichkeit
der beiden weiblichen Figuren, ihrer feinen
Gesichtszüge und ihrer übereinstimmenden
Haartracht empfinden: Zeichen ihrer Zusam-
mengehörigkeit und identischen Autorschaft.
Die Illustrationen zum Jahrgang 1827 der
Aurora entstanden1826. Wie der junge Schwind
zu dem Auftrag kam, diesen Band zu illustrie-
ren, läßt sich unschwer erklären, hält man sich
vor Augen, daß es niemand anderer als sein
Wiener Lehrmeister Ludwig Schnorr von
Carolsfeld war, der die Bilder zum Jahrgang
1825 geliefert hatte. Die zwischenliegende
Almanach-Ausgabe des Jahres 1826 illustrierte
der Redakteur und Herausgeber Kisfaludy
eigenhändig (und mit der gleichen Absicht
trug er sich auch für das nächste Jahr), doch
sah er sich durch verschiedene Umstände dazu
gezwungen i oder, man könnte auch sagen,
dank besserer materieller Verhältnisse in die
Lage versetzt i, mit der Illustration des Jahr-
gangs 1827 einen Wiener Meister zu betrauen.
Die Vermutung liegt nahe, daß Schnorr von
Carolsfeld an seiner Statt seinen begabten
Schüler Moritz von Schwind empfahl, der zu
jener Zeit mit materiellen Schwierigkeiten zu
kämpfen, sich andernteils aber mit ähnlichen
Arbeiten bereits einen Namen gemacht hatte.
Nach diesem einmaligen Auftrag brach die
Verbindung zwischen Kisfaludy und dem
jungen Wiener Meister ab, der sich zu jener
Zeit schon ernsthaft mit dem Gedanken be-
schäftigte, Wohnsitz und Wirkungsstätte end-
gültig nach München zu verlegen. Mit der
Illustration des nachfolgenden Aurora-Bandes
beauftragte Kisfaludy den in Wien geborenen,
aber damals schon in Buda tätigen Alexander
Clarot. Als er sich 1829 abermals an einen
Wiener Meister wandte, arbeitete Schwind
bereits in München, so daß die Wahl diesmal
auf Johann Ender fiel.