Ute Ricke-Immel
SPÄTGOTIK
AM OBERRHEIN-
MEISTERWERKE DER
PLASTIK UND DES
KUNSTHANDWERKS
1450-1530
1 Kopf eines Propheten. Niclaus Gerhaert, Strasbourg ms.
Sandstein, Höhe ze cm. Sttaslmurg, Musfe a: l'CEuvre
Neue-Dame
z H1. Margareta. Reliquienbüste aus Weißenburg a. Elsaß.
IStrasbourg, um 1465. Holz, Höhe u cm. Chicago. T}!!! A"
IISUKUI!
Sowohl die Kenner wie die Liebhaber spät-
gotischer Kunst zog es vergangenen Sommer
an den Rhein. Das Badische Landesmuseum
veranstaltete unter der Leitung seines Direk-
tors, Professor Ernst Petrasclt, in den Räumen
des Karlsruher Schlosses eine prächtige Schau
von etwa 180 Plastiken, 70 Goldschmiedewer-
ken, 25 Bildteppichen und Paramenten,
umrahmt von Glasgemälden, seltenen graphi-
schen Blättern, Münzen, Medaillen und Siegeln.
Weit über hundert Leihgeber - Museen,
Kirchen und Privatsammler in Deutschland,
Frankreich, der Sdiweiz, in Österreich, England,
Italien, Holland und Amerika - ermöglichten
es, daß erstmals in einem nahezu umfassenden,
wissensdmaftlich fundierten Überblidc die
Bedeutung und die Blütezeit des Oberrheinge-
bietes im Spätmittelalter einen Sommer lang
wieder lebendig wurde. Sieben Wiener Samm-
lungen beteiligten sidi mit vienehn wertvollen
Leihgaben an dieser überregionalen Ausstellung,
die sowohl der Forschung wie dem Kunst-
freund in vielfacher Hinsidit Anregungen und
ein künstlerisd-ies Erlebnis vermittelte.
Bedingt durdi ihre geographisdie Lage, war die
Landschaft des Oberrheins schon immer ein
Schmelztiegel der verschiedenartigsten Ein-
flüsse. Hier kreuzten sidi die wichtigsten Ver-
kehrsadern früherer Zeiten. Durch den Rhein-
strom - den Hauptverbindungsweg zwischen
dem Süden und dem Norden - und die große
West-Ost-Handelsstraße, die zur Donau führte,
wurde ständig neues Gedanken- und Kulturgut
aus allen Riditungen in das Oberrheingebiet
getragen, zu etwas Eigenständigem umgewan-
delt, das dann seinerseits wieder befruchtend
zurückwirkte. Dieses Fluktuierende erschwert
eine feste Abgrenzung der oberrheinischen
Kunstlandsdiaft, die heute zu drei Staaten
gehört: zu Frankreich, der Schweiz und zu
Deutschland. jedoch zeigen sich innerhalb der
Einflußgebiete der großen städtischen Metro-
polen gemeinsame stilistische Eigentümlichkei-
ten und enge Wechselbeziehungen, so daß man
die Bezeichnung „oberrheinische Kunst" mit
Recht für die im Umkreis von Konstanz am
Bodensee, Basel, Freiburg im Breisgau, Straß-
burg, Speyer und Worms entstandenen Werke
benutzen darf. Im Mittelalter war dieses Gebiet
aufgeteilt in die kirchlichen Bistümer der
genannten Städte (mit Ausnahme von Freiburg,
das damals zum Bistum Konstanz gehörte), in
die weltlichen Fürstentümer der Bischöfe und
in eine Vielzahl von Territorien: das Haus
Habsburg, die Markgrafschaft Baden, die Kur-
pfalz, das Elsaß und die Schweizer Eidgenos-
senschaft. Auch die Bedeutung der Reichsstädte
und Klöster darf nicht übersehen werden. Diese
territoriale Vielgestaltigkeit bedingte zur Zeit
der Spätgotik eine interessante und künstlerisch
reiche Epoche. Das gegenseitige Wetteifern zwi-
schen den versdiiedenartigen Herrschaftsberei-
chen förderte die Kunstfreudigkeit und brachte
den Künstlern mannigfaltige Aufträge. Für
mehr als ein halbes Jahrhundert folgte am
Oberrhein ein außergewöhnlidies Werk dem
anderen in sdmneller Reihenfolge.
Von überall zog es die Künstler an den Ober-
rhein - auch der junge Dürer kam, um in die-
sem Kreis zu lernen -, wo sie sida in den
Metropolen niederließen. Andererseits wander-
ten heimische Meister in die Fremde. Die
Begegnungen sind vielfältig und zunächst nicht
leicht entwirrbar. Durch die neuen, verviel-
fältigenden Techniken, wie Holzschnitt, Kupfer-
stich und Buchdruck, die ebenfalls ihren Aus-
gang vom Oberrhein nahmen, wurden diese
Verflechtungen noch verstärkt. Der Einfluß aus
Niederburgund, aus den berühmten flämischen
Städten, ist ausschlaggebend und prägend für
die Kunstrichtung am Oberrhein geworden.
Den alles überragenden Höhepunkt der flandri-