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Entgrenzung des Kreativen (zu BILD 35, S. 52).
Eine kreative Potenz von ungewöhnlicher Wirkung und
Ausstrahlun , das ist etwa der Stellenwert, den Joseph
Beuys im ö entliehen Bewußtsein einnimmt. Er resultiert
aus einer fast zehniährigen unablässigen Verwirklidiun
plastischer Impulse in einer Utfentlidikeit, die Plasti
unter einem Gattungsbegriff einordnen will, den aufzu-
sprengen und zu entgrenzen sidi Beuys zur Aufgabe
emacht hat. Er weiß sich im Einklang mit vielen
enerationsgenassen, mit noch mehr An ehörigen der
nachfolgenden Generation, kurz: Mit al denen, die
Kunst nicht als einen eingefriedeten Bereich mit sorgsam
dosierter Wirksamkeit in Leben und Gesellschaft ver-
stehen und akzeptieren können, sondern als „einen
zentralen und primären lmpuls" (G. Benn), dessen
Dimension und Reichweite der Begrenzung spottet. Der
zähe, hinhaltende, teilweise recht massive Widerspruch
gegen sein Werk, in Öffentlichkeit und persönlichem
Wirkungsbereich, hat die beharrliche Folge eigener
Manifestationen, die sidi in sehr verschiedener Weise
als Werke, Aktionen, Szenen, Gespräche präsentieren,
nidit zum Erlie en kommen lassen. Eine Ermüdung ist
vielmehr weder üben und drüben spürbar.
Feststellbar bleibt bis in die iüngste Zeit wieder und
wieder, daß die Arbeiten von Joseph Beuys - verglichen
mit vielen ähnlich gelagerten Resultaten - ungawähnlidi
vehemente Reaktionen hervorrufen, seien sie negativ
oder positiv. Das hat wohl vor allem seinen Grund in
der Vermeidung der vielen Normvorstellungen, die
unsere innere Existenz in weit stärkerem Umfang regie-
mentieren und verstümmeln, als uns bewuBt gemacht
wird, dies gilt gleidierweise für Maße, Materialien
und Situationen, in denen sidi sein Werk realisiert und
durch seine ieweilige Ausformung das ganze Gebäude
der gewohnten Determinationen in Frage stellt. Das
Aufbredien aus ungewohnten Aus angspositionen mit
ungewöhnlichen Materialien zu Zie en von schwer be-
stimmbarer und noch schwerer abgrenzbarer Tragweite
und Allgemeinverbindlicfikeit enthält zu viele Kompo-
nenten der lrritation und der Befremdlichkeil, als daB
man auf eine baldige einhellige Zustimmun zu seinen
Schritten auf dem Wege einer entspannten gEinheit von
Leben und Kunst redinen könnte. Diese Einheit würde
die Hierarchie der von ganz bestimmten Materialeigen-
schuften und Materialfetischismen geprägten Wertvor-
stellungen einebnen zugunsten einer nidit nivellierenden,
sondern gleichermaßen erhöhenden und auszeichnenr
den Charakterisierung aller Mittel und Stoffe. Beuys hat
eine große Stredre auf diesem Weg zurückgelegt, doch
ist es sicher falsch, sein Tun als Kult des prinzipiell
Poveren zu interpretieren oder in ihm einen Liebhaber
des Verschlissenen und Abgenut-zten zu sehen. lhm geht
es viel mehr um den Ausdrudxswert bestimmter Zustande
eines Materials, im äußersten Falle iedes Materials,
wobei nichts weniger angestrebt ist als Antithetik oder
Kontrast.
Beuys ist vielmehr ein Meister gleitender Übergänge,
bis zur Verwedvselbarkeit einander angenäherter Affini-
täten in Gestalt, Farbe, Gestus, Klang. So ist oudi seine
Fähigkeit der Verwandlung zu begreifen, die ohne ein
starres Gerüst von Grundformen oder routinierten Wen-
dungen im Zeichnerisdien und Malerischen zwanglos
Gestalthaftes in Räumliches überführt und umgekehrt.
Beäreifbar wohl als ein Gleichgerictitetsein zu Natur
un Kosmos, das seine Legitimaßion erhält aus unabr
lössigem Eindringen in Erscheinung und Forschung. Die
menschliche Gestalt entkleidet sich ihrer Aktivität gegen
Tier, Ding, Natur; sie verschwistert sich allem.
Die Wärme porträthofter Nähe eignet ihr ebenso wie
die Kühle lypenhofter Farne, das Engagierte des Indivi-
duellen findet ebenso seinen Raum wie die Unberühr-
barkeit des Mythischen. Ob sich ein Thema mit spitzem
Stift oder mit breitem Pinsel realisiert, immer erscheint
das Resultat, das Werk als ein Zeugnis der Gesamtheit
der Ersdieinun en und Geschehnisse, in die das einzelne
ohne Zwang eingebettet ist. Der unermüdbare kreative
Impuls naturhaft wie Atemholen und Wellen an findet
in der Arbeit von Joseph Bauys eine Kristal isamon von
großer Reinheit. Hans van der Grinten
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