gegenständen. Um sie herum dehnt sich die
grenzenlose Leere. Lionardeske lnnenhofarchitek-
turen, mit einem gespannten Netz von Flucht-
linien, die ins Unendliche weisen, wären ihre
engste passende Umrahmung, aber eher noch
die Sternbilder. Denn diese Akte sind Solitöre,
sind Einzelgänger, durchaus einsame Gestalten.
Mittelpunkte ihrer eigenen Welt.
Für Kolig ist der Mensch faszinierend als myste-
riöse Maschinerie. Wie gigantische Brückenkon-
struktionen sind diese schweren Körper. Ob nun
schon böuchlings oder rücklings hingeworfen in
den Raum - wie Gebirgszüge, oder schwer
lastend hingesetzt, wie aus dem Fels gehauene
ägyptische Gottheiten, oder stehend wie ragende
Türme - immer fühlt man, daß der Sinn des
Kunstwerkes die straffe Spannung der starken
Glieder ist, deren wohlgeratenes Funktionieren
ihre körperliche Vollendung als Instrument des
Lebens. Das Erbe Michelangelos.
Die Lebenserscheinungen, reduziert auf die
grundlegendsten Gesetze der Existenz, die auch
für die tote Materie gelten: Ausgewogenheit der
Massen, Statik und Ponderosität. Vor allem
anderen fesselte die Vorstellungskraft Koligs
sein ganzes Leben lang - das lapidare Liegen!
Es ist in seinem Bild „Die Klage" zu großartigem
Ausdrudc gekommen. Diese Besessenheit hat in
Österreich in der gewichtigen Ausgewogenheit
der liegenden Gestalten Wotrubas nodw eine
letzte Kulmination hervorgebracht.
Die beispiellose Eigenart der Aktzeichnungen
Koligs liegt demnach in ihrer Motivierung. Für
ihn war der menschliche Körper nicht als Träger
einer vorgefoßten Idee wichtig wie beispiels-
weise für Hodler, nicht als Akteur einer Geste
wie für Schiele oder den jungen Picasso. Seine
jungen Holzfäller interessierten ihn nicht als
sterbliche Hülle, als Marionetten der Seele,
deren innere Bewegtheit sie als Medium auszu-
drücken hätten wie bei Kokoschka. lhn fesselte
deshalb auch nicht das Gesicht so wie alle an-
deren Maler, ja nicht einmal die Bewegung wie
etwa in den Wirbelstürmen der Kompositionen
Tintarettos. Kolig braucht das ruhige, ruhende,
am liebsten das schlafende Modell. Die ihn
faszinierende Maschinerie des lebenden Kör-
pers erlebt er im Knochengerüst, in der Span-
nung der Muskelwülste und Sehnenstränge, der
fest darüber gespannten Haut. Und die Schwer-
kraft dieser Massen, die dynamische Wucht die-
ser Formen und deren Ausgewogenheit - das
war sein wirkliches Motiv. Die unerschöpfliche,
unausschöpfliche Logik des menschlichen Leibes,
die unfaßbare Harmonie seiner Gliedmaßen,
der eindeutige, aber unbeschreibliche Ausdruck,
der in jedem Teil das Ganze bestätigt, das war
seine vornehmste, niemals ganz zu seiner vollen
Befriedigung gelöste Aufgabe. Die Gestalt, wel-
che der dunkle Drang der Schöpfung in Jahr-
millionen hervorgebracht hat und die der Mensch
deshalb vor allem anderen schön, weil anzie-
hend, findet. Das Werkzeug und Ziel unserer
Sinnlichkeit, das war Koligs Motiv. Der heftige
Drang, all dessen habhaft zu werden, was er
im Anblick des Menschenkörpers dunkel emp-
fand, zwang ihn zu seinen neuen, eigenartigen
Ausdrucksmitteln, zu seinen Hilfsvarstellungen,
zu seiner einzigartigen Methodik.
Der Zeichenstil Anton Koligs entwickelte sich
seit 1912 organisch weiter. Während der Jahre in
Frankreich erreichte er die weitgehendste Unab-
hängigkeit von der fotografierbaren Natur.
Wütende Streiche mit weichem Bleistift oder
Zeichenkohle, in parallelen Strichbündeln, die in
flatternden Flächen, ohne Einhalt bei der Kontur,
die Form festlegen, die wie mit der Axt aus dem
Stamm gehauen scheint. Er erzählte, daß ein
junger Matrose, den er am Badestrand von
30
Ambeteuse gezeichnet hatte, in der ersten Pause
ihm die erstaunte Frage stellte: „. .. das soll ich
sein?", aber dann, nach kurzem beiderseitigem
Schweigen, hinzufügte „... ich verstehe schon,
Sie interessiert ja nur die Form!" Kolig de-
monstrierte seine Formanschauung mit der Blei-
stiftspitze - wie ein Chirurg mit dem Skalpell;
jeder Strich hatte seine Ab-Sicht, seine Auf-
Gobe. Manchmal bedurfte es einer Verstärkung,
einer Er-Klärung. Man entdeckte verwundert,
was da alles zu sehen war. Und man erkannte,
worauf es beim Aktzeichnen ankam. Koligs Me-
thode war aufschlußreich und deshalb mitteil-
bar; sie sollte die Form aufklären und das mit
rein zeichnerischen Mitteln, die geläutert waren
van landläufiger Gedankenlosigkeit. Von Koligs
vornehmem Zugriff, seiner genialen Heftigkeit,
die Wasser aus dürrem Felsen zu schlagen ver-
mochte, haben alle seine Schüler einen mocht-
vollen Anstoß empfangen.
Die vollkommenste Zeichnung entsteht nach einer
Gesetzmäßigkeit, die den Entstehungsbedingun-
gen des Gedichtes oder Liedes verwandt ist;
sie ist spontan, in einem Atem, wie vom Unter-
bewußtsein diktiert, hingeschrieben und in sich
abgeschlossen; sie reimt sich sozusagen. Sie ist,
so wie die Plastik, in sich zentriert; ist ein aus-
gewogenes System, so wie ein chinesisches
Schriftzeidwen. Sie ist im wesentlichen unabhän-
gig vom Format, von den vier Grenzlinien des
Zeichenpapiers, wogegen das Bild genau ins
Format gespannt ist mit Kette und Schuß.
Kolig begann grundsätzlich mit der Feststellung
der Lage der vorderen, oberen Darmbeinstachel,
den sich unter der darüber gespannten Haut an
den Hüften beiderseits erhebenden Knochen-
höckern, um so die genaue Lage des Beckens zu
den Schultern zu bestimmen. Diese vier Haupt-
punkte zeigen jede Biegung, Drehung, Neigung
oder Verkürzung des Körpers unmittelbar auf.
Solche symmetrische Schlüsselpunkte des Kör-
pers notierte Kolig in den ersten Jahren der Ent-
wicklung seiner Zeichenweise meistens mit sehr
ausdrücklichen schwarzen, knäuelartigen Punk-
ten und wanderte mit der Bleistiftspitze wie ein
Bergsteiger, ja wie ein Geometer, über Hügel und
Täler, Mulden und Grate des liegenden Körpers.
Er sah hiebei seinen Weg wie aus der Ferne, so
daß sich dessen Krümmungen perspektivisch oft
zu Zickzacklinien zusammenschoben und schließ-
lich den „beschriebenen" oder „bezeichneten"
Körper wie ein ihm aufliegendes Netz um-
schlossen. Es war ein immer wieder fesselnder
Anblick, wenn Kolig - immer innerhalb der Kon-
turen - anfing, sozusagen die Höhenlagen der
Landschaft mappierend triangulierend, mit sei-
nen Hilfslinien die Form sozusagen stereoskopisdt
plastisch aufzubauen mit einem kühnen Bauge-
rüst, ohne Zuhilfenahme von Schatten und so
lange als nur möglich unabgeschlossen durch
den - nur allzu trügerischen - Umriß, der doch
die einzige Auskunft, Anfang und Ende aller
anderen Aktzeichner ist. Die Kontur blieb am
Ende sogar manchmal fort, wurde entbehrlich.
Oft umfing sie erst zum Abschluß der Arbeit nur
flüchtig, aber vollendet sicher, wie ein Schluß-
akkord, die Symphonie der aufgeregten Visier-
linien, Spiralen und Abmessungen, der flächen-
haltenden Schichtenlinien, lsohypsen und lsaba-
then, wie eine scheinbar achtlos hingewarfene
Unterschrift.
Aus dieser Kontroverse zwischen der eigenen
Ergriffenheit vor dem kraftausstrahlenden Phö-
nomen des männlichen Körpers und dem Drange
nach erschöpfender Darstellung der objektiven
Erscheinung, ausgetragen mit intuitiv empfunde-
nen, geometrisch angewandten Ausdrudrsmitteln,
schoß unversehens nicht nur der gewissermaßen
astrale Leib eines Menschen zusammen wie ein
Kristall in der gesättigten Mutterlösung, son-
dern zugleich auch ein höchst eigenartiges Netz
von Kraftlinien, Spannungszentren und Penti-
menten, die nicht nur den dargestellten Körper
erfassen, sondern am Ende mehr als alles an-
dere, rein objektive, auch die wilde Weltveran-
schaulichung, die Wucht des subjektiven, heftigen
Gestaltungswillens Koligs ausdrücken, also seine
Persönlichkeit.
Das lockere Gefüge von Strichen, deren Zusam-
menspiel Eigenwert erzielt, selbständige Bedeu-
tung gewinnt. Der Kribbel der vor Erregung
zitternden Linie, die ebensowenig nur im Dienste
einer Mitteilung, einer Beschreibung bleiben
will, wie der Schritt einer Tänzerin nicht bloße
Fortbewegung bedeutet oder der Vers eines Ge-
dichtes bloße lnfarmation. In allen diesen Aus-
nahmeföllen ist das Mittel fast schon der eigent-
liche Zweck.
Cezanne entdeckte die vibrierende Linie, welche
die starre Kontur durch deren rhythmische, un-
endlich feinfühlige Wiederholung verleugnet, die
sich wie Unsicherheit gebärdet und höchste Mei-
sterschaft beweist. Denn seine Art zu zeichnen,
gibt der Linie ihren musikalischen Eigenwert
und der Zeichnung ihre eigentliche Bedeutung
als Kunstwerk. Die wundervollen Anfänge des
analytischen Kubismus haben aus der Spätkunst
Cezannes eine neue malerische Weltanschauung
geschöpft. Die bei Cezanne verselbständigten
Teilflächen der Gegenstände lockerten sich noch
weiter, entfernten sich noch mehr von ihrem Vor-
bild, ihrem Anlaß und widmeten sich vorbehalt-
los eigenen Aufgaben reiner Bildhaftigkeit.
Bei Kolig finden wir die entgegengesetzte Nutz-
anwendung: im analytischen Kubismus diente
die Struktur der Ausdrucksmittel der Verschleie-
rung der Gegenständlichkeit, der Auflösung der
körperlichen Form und Oberfläche. Koligs un-
naturalistische Ausdrucksmittel dienten dagegen
der gründlicheren Erfassung der Naturform, ih-
rer Erklärung und nicht ihrer Tronsposition ins
abstrakte Bildelement. Er war bemüht, mit allen
erdenklichen Mitteln Verborgenes aufzuschließen,
nicht aber die Naturerscheinung zu „verschlüs-
seln", zu verbergen. Er wollte das Sichtbare
deutlicher madwen, ohne es umzudeuten, noch
es zu imitieren. Er bereicherte die zeichneri-
schen Ausdrucksmittel um weitere die Form
abtastende, umschreibende, abmessende Linien,
die er beim Anblick des Modells gewissermaßen
auf dessen Oberfläche applizierte, nicht nur
um das Schattieren, Schummern zu vermeiden,
das keine rein zeichnerische Methode ist, san-
dern um auf diese Weise die Form auch dort
nach zu erfassen, wo in der Wirklichkeit - bei
ouffallendem Licht - keine Schattenwirkung auf-
treten kann und deshalb die traditionellen Dar-
stellungsmittel versagen. Es war dies die um-
fassendste Art zu zeichnen, die jemals erfunden
worden ist.
Koligs Formlinien umfassen den menschlichen
Körper wie ein Sparrwerk von Meridionen und
Breitengraden. Dieser sein neuer Zugriff hat
sichtbar weitergewirkt in der österreichischen
Kunst, und noch in Avramidis' großartigen Ak-
ten erkennen wir eine letzte energisdie Konse-
quenz aus diesen seinen Erfahrungen.
Der Vorgang Koligs beim Zeichnen war im
wörtlichen Sinne analytisch - nach Heyses Defi-
nition: „analysein auflösen. Die Auflösung eines
Körpers in seine letzten Bestandteile; Zergliede-
rung, Auseinandersetzung, Entwicklung eines Be-
griffes; die Rückschreitung vom Zusammenge-
setzten zum Einfachen,von den Wirkungen zu den
Ursachen, um das gesuchte Unbekannte zu finden".
_Das gesuchte Unbekannte: „das, was nicht in die
Augen springt", wie Kolig es zu bezeichnen
pflegte.