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Volltext: Alte und Moderne Kunst XVII (1972 / Heft 120)

Boeckl hat die Kraft und Neuheit der Anschauung 
Koligs voll erkannt und hat sie auf seine Art 
noch ein Stück weiterentwickelt. Nach wenigen 
Jahren haben seine Zeichnungen nichts mehr 
von Koligschen Mitteln an sich, aber die boh- 
rende Tiefgründigkeit seiner zeichnerischen 
Recherchen, der niemals zufriedene Maßstab an 
die eigene Leistung, gemahnen immer wieder 
an Koligs Sturm und Drongzeit. 
Die Prätention, das innerste Wesen der Natur- 
erscheinung erfassen zu müssen, war die Grund- 
einstellung Koligs und Wiegeles. Beide haben 
auf ihre Art dieser Absicht wirksamen Ausdruck 
verliehen. Und das ist der grundsätzliche Unter- 
schied zwischen den mit unübertroffener Sicher- 
heit und Endgültigkeit hingeschriebenen Zeich- 
nungen Schieles und den Männerakten Koligs, 
die immer wie im Entstehen, wie unterwegs 
wirken, ia geradezu vor allem das Suchen, das 
Abtasten der Form ostentativ demonstrieren 
wollen, den unabgeschlassenen Vorgang der Er- 
forschung des Obiekts, die Wucht seiner wäg- 
baren Masse. 
Bilder sind nicht reproduzierbar etwa wie Bücher 
oder Musik, denn ihre Wirkung - bedingt vom 
Originalformat - gipfelt in den feinsten Ausstrah- 
lungen ihrer Oberfläche, welche unter anderem die 
plastische Struktur der Leinwand zur Geltung bringt 
und das leise oder pastose Relief der Pinselstriche. 
Fast iedes Bild hat also auch etwas von einer 
Plastik an sich. Wer den Genuß nicht kennt, der 
von der unmittelbaren Gegenwart, der Konfron- 
tation mit dem Original, ausstrahlt, der weiß nichts 
von Malerei, dem würde eine Sammlung solider 
Kopien den gleichen Dienst erweisen. Von der 
Unmöglichkeit, die Farben des Originals wieder- 
zugeben, will ich hier gar nicht reden. Aber fast 
noch unmöglicher ist es, eine Zeichnung wieder- 
zugeben, zu reproduzieren. Ein meisterlicher Fak- 
similedruck müßte beispielsweise immer auf dem 
gleichen, alten, handgeschöpften Papier hergestellt 
werden, auf dem das Original gezeichnet wurde. 
Die Tonskala, vom Papier ausgehend, das niemals 
rein weiß sein wird, bis zu den dunkelsten Blei- 
stiftstrichen, ist vielstufig, was im Druck technisch 
undurchführbar ist. Leise geschummerte Tönungen, 
in ihren zarten Übergängen zum Papiertan, kann 
kein Klischee erfassen, ebensowenig wie den dunk- 
len, fetten Seidenglanz des weichsten Graphit- 
tones 6B. Er wird im Druck - verglichen mit dem 
Original - immer klebrig wirken, wie eben die 
Druckerschwdrze, durch ihröliges Bindemittel, niemals 
die Wirkung trockenen Graphites oder gar die der 
silbrigen Zeichenkohle haben kann. Jede Reproduk- 
tion einer Bleistiftzeichnung ist also eine Vul- 
garisierung des Kunstwerkes, wie eine schlechte 
Grammophonplatte, wie ein verstimmtes Klavier. 
Daran denkt kaum iemond. Jedermann kennt die 
berühmtesten Zeichnungen alter und neuer Meister, 
wieviele aber von hunderttausend Kennern haben 
sich schon der Mühe unterzogen, das Originalblatt 
in seinem Tresor aufzusuchen und zu genießen? 
Man verzichtet bei diesen Kunstwerken einfach auf 
einen wesentlichen Anteil ihrer Wirkung; man be- 
wundert statt taufrischer Blumen - parfümierte 
Kunstblumen. Jeder dilettantische Markensammler 
scheint mir anspruchsvoller beim Genuß seiner 
„Orginale" als die überwiegende Mehrzahl der 
Liebhaber bildender Kunst, die plumpe Übersetzun- 
gen, ia Falsifikate an Stelle der Originale genie- 
Ben. Das ist bezeichnend für die oberflächliche Be- 
ziehung zur bildenden Kunst überhaupt. 
Wie sollte sich derienige verständlich mad1en 
können, der etwas über Zeichnungen mitzuteilen 
hat, deren Originale kaum iemand kennt? Um 
wieviel kann so ein Versuch erfolgreicher sein als 
etwa die Beschreibung des Tones eine Oboe, die 
man nicht zugleich ertönen läßt? Kann denn also 
die Beschreibung von Zeichnungen sich glaubhaft 
machen, wenn selbst die vollkammenste beige- 
fügte Reproduktion das Beste schuldig bleiben 
muß? Die Unmittelbarkeit der Handschrift, die 
vom Format des Originals ebenso unzertrennlich 
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ist wie das vorn Komponisten vorgeschriebene 
Tempo in einem musikalischen Opus. Die zauber- 
hafte Leichtigkeit, ia Unbewußtheit der entschei- 
denden Linienzüge, die bei fotomechanischer Re- 
produktion plump gemacht werden müssen, weil 
sie sonst in der unumgänglichen Verkleinerung 
völlig verschwinden würden. Die Wuchtigkeit tie- 
fer Schattenstriche und die aus alledem resultie- 
rende stereoskopische Räumlichkeit innerhalb 
des Liniengerüstes. 
Es gibt aber keine Aktzeichnungen Koligs, die 
selbst in einer Zeitschrift von großem Format 
unverkleinert Platz finden könnten. Nur ein 
Mappenwerk könnte diesem Mangel abhelfen. 
Der Liebhaber bildender Kunst kennt also fast 
alle Zeichnungen und Bilder nur aus Büchern 
und ist somit schlechter dran als iene „Kenner", 
welche die meisten Bücher nur im Suppenwürfel 
des Readers Digest kennenlernen. 
Ein Buch muß man immerhin Wort für Wort 
lesen; ein Konzert oder Theaterstück muß man 
stundenlang sitzend anhören, aber an Bildern 
geht der „Gebildete" nur vorüber. Wo käme er 
hin, wenn er vor iedem sitzend verweilen wollte 
oder dürfte, da sie doch zu hunderten auf einmal 
serviert werden? Und so wird bildende Kunst 
grundsätzlich nur im Surrogat konsumiert. 
Werner Hoffmann schöpfte die grundlegenden 
Informationen über Boeckl allem Anschein nach 
aus Gesprächen mit diesem selbst; daraus er- 
klärt sich, daß der Name Kalig bei der Erörte- 
rung der Quellgebiete von Boeckls Kunst niemals 
gefallen sein dürfte; denn Boeckl haßte seine 
Taufpoten und Firmgödl. 
W. Hoffmann nennt die klassische Zeichenweise 
„kaIligraphisch", wogegen die letzte Malergene- 
ration diesem Wort die entgegengesetzte Be- 
deutung gegeben hat und also damit nicht die 
Schönschrift, sondern den unbewußt hingeschrie- 
benen, spontanen Schriftzug meint. (Die Chine- 
sen empfangen den wichtigsten Gefühlsimpuls 
ihrer Lyrik aus der ieweils besonderen Art der 
Orginalniederschrift des Autors, in der die letz- 
ten Feinheiten seiner lmagination zum Ausdruck 
kommen.) Die flüssige, ausgeschriebene, eben 
durchaus nicht kalligraphierte Handschrift über- 
haupt, die nicht nur das Temperament, den 
Charakter, also Persönlichkeit und Individualität, 
sondern auch zugleich die momentane seelische 
Situation, die psychophysische Verfassung, Kon- 
dition des Autors automatisch wiedergibt, also 
das Vorgefaßte, Vorausgesetzte, Bedingende, 
das, was beeinflußt, sich selbst aber kaum be- 
einflussen läßt, das Psychogrammatische. 
Mit einem Wort, nicht Lionardo (der, wenn er 
sich zu zeichnen anschickte, gewiß im voraus 
schon bis in alle Einzelheiten genau wußte, wie 
seine Zeichnung aussehen werde), sondern das 
unbewußt zielsichere Ungestüm Rembrandts. Und 
diesem Ungestüm ist Boeckl von allen Öster- 
reichern am nöchsten gekommen. Seine gezeich- 
neten Stilleben von 192i in der Albertina (lnv. 
24.995 u. 23.210) gehören zu den kostbarsten 
Äußerungen der Zeichenkunst dieser Zeit über- 
haupt. Die zeichnerische Kultur, Wucht und Fein- 
heit zugleich werden schwerlich ihresgleichen 
finden. Diese Blätter sind so vollendet, daß 
man keinen Fingerabdruck, keinen Strich oder 
Punkt an ihnen missen möchte. Sie sind so un- 
erklärlich schön und gelassen wie Gedichte des 
iungen Rirnboud oder wie die symphonischen 
Edelsteinketten von Webern; ihre weise, zen- 
trierte Ausgewogenheit, ihre traumsichere Ein- 
deutigkeit, ihre Sparsamkeit der Mittel, ihre 
ungewollte Stilreinheit - „a nan lucendo" - Mut, 
Kraft und höchste Präzision, wie beim Töten des 
Stieres in der bleichen Arena... Wer macht 
ihm das nach? - Oder besser gefragt: wer hat 
ihm das vorgemacht? Diese Sensibilität für den 
Eigenwert der Linie, des Striches? Jedenfalls 
gab es damals in Österreich niemanden, außer 
Kalig, der sich auf diese Magie verstanden hätte. 
In ienen Jahren fanden sich nicht nur in Paris 
Maler, die ein Gefühl für das „feine Gekritzel" 
entfalteten. Von Paris oder von Aix ging es 
wohl aus, aber bei dem Schweizer Paul Klee 
fand dieser Strom einen reißenden Nebenfluß, 
der aus den sonderbarsten Quellen gespeist 
worden war. Im Germanischen Museum gibt es 
prickelnde, mit glühender Nadel in weißgegerb- 
tes Leder gebrannte Zeichnungen von Eskimos, 
bei deren Anblick man nicht umhin kann, an 
Klee zu denken. Der famose Oberländer hatte 
in den Meggendorfer Blättern schon gegen Ende 
des vorigen Jahrhunderts eine Folge von Zeich- 
nungen des „kleinen Moritz" veröffentlicht, die 
eine epochale und äußerst kultivierte Entdeckung 
der Kinderzeichnung waren. Mit spitzer Feder, 
ohne Schattenstriche, gekritzelte Liniengerüste, 
zart und zerbrechlich wie Eisnadeln. Klee-Zeich- 
nungen, wie das „Gedenkblalt mit Spruch" von 
19181196 (Du still allein - Ihr Ungeheuer - 
mein Herz ist Euer - mein Herz ist Dein) könn- 
ten noch von Oberländer sein! Daraus wurde 
die zentrale, ertragreichste Inspiration Paul Klees. 
Die pubertale Grausamkeit und Desperation sei- 
ner frühen Radierungen beruhigte sich am harm- 
losen Humor Oberländers. Und er sollte ihn nicht 
mehr im Stich lassen. Selbst der starke Einfluß 
Kandinskys konnte daran nichts ändern, dessen 
aseptische Humorlosigkeit sowohl seine Schwä- 
che als auch seine Stärke ist. Man kann stunden- 
lang Bilder Klees neugierig studieren, wogegen 
man sich an Kandinsky, der einem Jahrhundert 
einen malerischen Weg gewiesen hat, so schnell 
übersättigt wie an Kaviar. Was wären Breughel, 
Bosch und selbst Callat ohne den alles Grauen 
übertönenden Unterton ihres Humors? 
Klee hat T917 den Zauber, das Eigenleben der 
Linie, des haarscharfen Striches erkannt und wie 
kein anderer ausgewertet. Die unentbehrlichen 
Titel, die Klee seinen Bildern gegeben hat (und 
die unübersetzbar sind wie Morgenstern), näh- 
ren diesen Galgenhumor, mit dem er sich über 
sich selbst und die Welt lustig macht. So ent- 
deckte Paul Klee als erster neue zeichnerische 
Ausdrucksmittel, die organischer, organisierter 
als die trotzigen Manifeste des Russen Kandinsky, 
doch immer noch weit weg genug van der ver- 
haßten Gegenständlichkeit waren. 
ltten träumte von der unmittelbaren Darstellung 
seelischer Energien, die wie Sonnenexplosionen 
wirken sollten, wie schwarze Kometen! 
Alle diese Experienzen und Experimente lagen 
nicht auf dem Wege Anton Koligs, aber die 
heftigen Ausdrucksmittel Ittens, die empfind- 
samen Kristallogramme Klees gaben ihm un- 
bewußt ein neues Rüstzeug, eine neue Sprache 
für nach unausgesprochene Reize der lebenden 
Wirklichkeit. Es ist, als ob zwei Gegensätze sich 
in Koligs Zeichnungen berührten, um eine neue 
Einheit zu erzeugen. Einen noch unbetretenen 
Weg: die Eroberung des Konkreten mit ab- 
strakten Mitteln. 
Die Fruchtbarkeit dieser Gestaltungsweise hat 
gerade die starke Wirkung auf Boeckl bewiesen, 
der von hier aus seinen ersten Aufschwung er- 
fahren hat. Nicht nur zu seinen wundervollen 
Zeichnungen der Frühzeit, sondern auch später 
noch zu Bildern wie die Anatomie, oder zu den 
großen Frauenakten, die der Vorstellungswelt 
Koligs viel näherstehen als der Kakoschkas, 
van Goghs oder der Matissens. 
Mitte Mai 192i saß ich zum erstenmal in Nötsch 
vor dem Modell - es war ein stämmiger Holz- 
fäller -, und Anton Kalig stand hinter mir und 
sah mir gespannt zu. Ich hatte damals ein Seme- 
ster an der Konslhögskolan in Stockholm hinter
	        
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