Boeckl hat die Kraft und Neuheit der Anschauung
Koligs voll erkannt und hat sie auf seine Art
noch ein Stück weiterentwickelt. Nach wenigen
Jahren haben seine Zeichnungen nichts mehr
von Koligschen Mitteln an sich, aber die boh-
rende Tiefgründigkeit seiner zeichnerischen
Recherchen, der niemals zufriedene Maßstab an
die eigene Leistung, gemahnen immer wieder
an Koligs Sturm und Drongzeit.
Die Prätention, das innerste Wesen der Natur-
erscheinung erfassen zu müssen, war die Grund-
einstellung Koligs und Wiegeles. Beide haben
auf ihre Art dieser Absicht wirksamen Ausdruck
verliehen. Und das ist der grundsätzliche Unter-
schied zwischen den mit unübertroffener Sicher-
heit und Endgültigkeit hingeschriebenen Zeich-
nungen Schieles und den Männerakten Koligs,
die immer wie im Entstehen, wie unterwegs
wirken, ia geradezu vor allem das Suchen, das
Abtasten der Form ostentativ demonstrieren
wollen, den unabgeschlassenen Vorgang der Er-
forschung des Obiekts, die Wucht seiner wäg-
baren Masse.
Bilder sind nicht reproduzierbar etwa wie Bücher
oder Musik, denn ihre Wirkung - bedingt vom
Originalformat - gipfelt in den feinsten Ausstrah-
lungen ihrer Oberfläche, welche unter anderem die
plastische Struktur der Leinwand zur Geltung bringt
und das leise oder pastose Relief der Pinselstriche.
Fast iedes Bild hat also auch etwas von einer
Plastik an sich. Wer den Genuß nicht kennt, der
von der unmittelbaren Gegenwart, der Konfron-
tation mit dem Original, ausstrahlt, der weiß nichts
von Malerei, dem würde eine Sammlung solider
Kopien den gleichen Dienst erweisen. Von der
Unmöglichkeit, die Farben des Originals wieder-
zugeben, will ich hier gar nicht reden. Aber fast
noch unmöglicher ist es, eine Zeichnung wieder-
zugeben, zu reproduzieren. Ein meisterlicher Fak-
similedruck müßte beispielsweise immer auf dem
gleichen, alten, handgeschöpften Papier hergestellt
werden, auf dem das Original gezeichnet wurde.
Die Tonskala, vom Papier ausgehend, das niemals
rein weiß sein wird, bis zu den dunkelsten Blei-
stiftstrichen, ist vielstufig, was im Druck technisch
undurchführbar ist. Leise geschummerte Tönungen,
in ihren zarten Übergängen zum Papiertan, kann
kein Klischee erfassen, ebensowenig wie den dunk-
len, fetten Seidenglanz des weichsten Graphit-
tones 6B. Er wird im Druck - verglichen mit dem
Original - immer klebrig wirken, wie eben die
Druckerschwdrze, durch ihröliges Bindemittel, niemals
die Wirkung trockenen Graphites oder gar die der
silbrigen Zeichenkohle haben kann. Jede Reproduk-
tion einer Bleistiftzeichnung ist also eine Vul-
garisierung des Kunstwerkes, wie eine schlechte
Grammophonplatte, wie ein verstimmtes Klavier.
Daran denkt kaum iemond. Jedermann kennt die
berühmtesten Zeichnungen alter und neuer Meister,
wieviele aber von hunderttausend Kennern haben
sich schon der Mühe unterzogen, das Originalblatt
in seinem Tresor aufzusuchen und zu genießen?
Man verzichtet bei diesen Kunstwerken einfach auf
einen wesentlichen Anteil ihrer Wirkung; man be-
wundert statt taufrischer Blumen - parfümierte
Kunstblumen. Jeder dilettantische Markensammler
scheint mir anspruchsvoller beim Genuß seiner
„Orginale" als die überwiegende Mehrzahl der
Liebhaber bildender Kunst, die plumpe Übersetzun-
gen, ia Falsifikate an Stelle der Originale genie-
Ben. Das ist bezeichnend für die oberflächliche Be-
ziehung zur bildenden Kunst überhaupt.
Wie sollte sich derienige verständlich mad1en
können, der etwas über Zeichnungen mitzuteilen
hat, deren Originale kaum iemand kennt? Um
wieviel kann so ein Versuch erfolgreicher sein als
etwa die Beschreibung des Tones eine Oboe, die
man nicht zugleich ertönen läßt? Kann denn also
die Beschreibung von Zeichnungen sich glaubhaft
machen, wenn selbst die vollkammenste beige-
fügte Reproduktion das Beste schuldig bleiben
muß? Die Unmittelbarkeit der Handschrift, die
vom Format des Originals ebenso unzertrennlich
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ist wie das vorn Komponisten vorgeschriebene
Tempo in einem musikalischen Opus. Die zauber-
hafte Leichtigkeit, ia Unbewußtheit der entschei-
denden Linienzüge, die bei fotomechanischer Re-
produktion plump gemacht werden müssen, weil
sie sonst in der unumgänglichen Verkleinerung
völlig verschwinden würden. Die Wuchtigkeit tie-
fer Schattenstriche und die aus alledem resultie-
rende stereoskopische Räumlichkeit innerhalb
des Liniengerüstes.
Es gibt aber keine Aktzeichnungen Koligs, die
selbst in einer Zeitschrift von großem Format
unverkleinert Platz finden könnten. Nur ein
Mappenwerk könnte diesem Mangel abhelfen.
Der Liebhaber bildender Kunst kennt also fast
alle Zeichnungen und Bilder nur aus Büchern
und ist somit schlechter dran als iene „Kenner",
welche die meisten Bücher nur im Suppenwürfel
des Readers Digest kennenlernen.
Ein Buch muß man immerhin Wort für Wort
lesen; ein Konzert oder Theaterstück muß man
stundenlang sitzend anhören, aber an Bildern
geht der „Gebildete" nur vorüber. Wo käme er
hin, wenn er vor iedem sitzend verweilen wollte
oder dürfte, da sie doch zu hunderten auf einmal
serviert werden? Und so wird bildende Kunst
grundsätzlich nur im Surrogat konsumiert.
Werner Hoffmann schöpfte die grundlegenden
Informationen über Boeckl allem Anschein nach
aus Gesprächen mit diesem selbst; daraus er-
klärt sich, daß der Name Kalig bei der Erörte-
rung der Quellgebiete von Boeckls Kunst niemals
gefallen sein dürfte; denn Boeckl haßte seine
Taufpoten und Firmgödl.
W. Hoffmann nennt die klassische Zeichenweise
„kaIligraphisch", wogegen die letzte Malergene-
ration diesem Wort die entgegengesetzte Be-
deutung gegeben hat und also damit nicht die
Schönschrift, sondern den unbewußt hingeschrie-
benen, spontanen Schriftzug meint. (Die Chine-
sen empfangen den wichtigsten Gefühlsimpuls
ihrer Lyrik aus der ieweils besonderen Art der
Orginalniederschrift des Autors, in der die letz-
ten Feinheiten seiner lmagination zum Ausdruck
kommen.) Die flüssige, ausgeschriebene, eben
durchaus nicht kalligraphierte Handschrift über-
haupt, die nicht nur das Temperament, den
Charakter, also Persönlichkeit und Individualität,
sondern auch zugleich die momentane seelische
Situation, die psychophysische Verfassung, Kon-
dition des Autors automatisch wiedergibt, also
das Vorgefaßte, Vorausgesetzte, Bedingende,
das, was beeinflußt, sich selbst aber kaum be-
einflussen läßt, das Psychogrammatische.
Mit einem Wort, nicht Lionardo (der, wenn er
sich zu zeichnen anschickte, gewiß im voraus
schon bis in alle Einzelheiten genau wußte, wie
seine Zeichnung aussehen werde), sondern das
unbewußt zielsichere Ungestüm Rembrandts. Und
diesem Ungestüm ist Boeckl von allen Öster-
reichern am nöchsten gekommen. Seine gezeich-
neten Stilleben von 192i in der Albertina (lnv.
24.995 u. 23.210) gehören zu den kostbarsten
Äußerungen der Zeichenkunst dieser Zeit über-
haupt. Die zeichnerische Kultur, Wucht und Fein-
heit zugleich werden schwerlich ihresgleichen
finden. Diese Blätter sind so vollendet, daß
man keinen Fingerabdruck, keinen Strich oder
Punkt an ihnen missen möchte. Sie sind so un-
erklärlich schön und gelassen wie Gedichte des
iungen Rirnboud oder wie die symphonischen
Edelsteinketten von Webern; ihre weise, zen-
trierte Ausgewogenheit, ihre traumsichere Ein-
deutigkeit, ihre Sparsamkeit der Mittel, ihre
ungewollte Stilreinheit - „a nan lucendo" - Mut,
Kraft und höchste Präzision, wie beim Töten des
Stieres in der bleichen Arena... Wer macht
ihm das nach? - Oder besser gefragt: wer hat
ihm das vorgemacht? Diese Sensibilität für den
Eigenwert der Linie, des Striches? Jedenfalls
gab es damals in Österreich niemanden, außer
Kalig, der sich auf diese Magie verstanden hätte.
In ienen Jahren fanden sich nicht nur in Paris
Maler, die ein Gefühl für das „feine Gekritzel"
entfalteten. Von Paris oder von Aix ging es
wohl aus, aber bei dem Schweizer Paul Klee
fand dieser Strom einen reißenden Nebenfluß,
der aus den sonderbarsten Quellen gespeist
worden war. Im Germanischen Museum gibt es
prickelnde, mit glühender Nadel in weißgegerb-
tes Leder gebrannte Zeichnungen von Eskimos,
bei deren Anblick man nicht umhin kann, an
Klee zu denken. Der famose Oberländer hatte
in den Meggendorfer Blättern schon gegen Ende
des vorigen Jahrhunderts eine Folge von Zeich-
nungen des „kleinen Moritz" veröffentlicht, die
eine epochale und äußerst kultivierte Entdeckung
der Kinderzeichnung waren. Mit spitzer Feder,
ohne Schattenstriche, gekritzelte Liniengerüste,
zart und zerbrechlich wie Eisnadeln. Klee-Zeich-
nungen, wie das „Gedenkblalt mit Spruch" von
19181196 (Du still allein - Ihr Ungeheuer -
mein Herz ist Euer - mein Herz ist Dein) könn-
ten noch von Oberländer sein! Daraus wurde
die zentrale, ertragreichste Inspiration Paul Klees.
Die pubertale Grausamkeit und Desperation sei-
ner frühen Radierungen beruhigte sich am harm-
losen Humor Oberländers. Und er sollte ihn nicht
mehr im Stich lassen. Selbst der starke Einfluß
Kandinskys konnte daran nichts ändern, dessen
aseptische Humorlosigkeit sowohl seine Schwä-
che als auch seine Stärke ist. Man kann stunden-
lang Bilder Klees neugierig studieren, wogegen
man sich an Kandinsky, der einem Jahrhundert
einen malerischen Weg gewiesen hat, so schnell
übersättigt wie an Kaviar. Was wären Breughel,
Bosch und selbst Callat ohne den alles Grauen
übertönenden Unterton ihres Humors?
Klee hat T917 den Zauber, das Eigenleben der
Linie, des haarscharfen Striches erkannt und wie
kein anderer ausgewertet. Die unentbehrlichen
Titel, die Klee seinen Bildern gegeben hat (und
die unübersetzbar sind wie Morgenstern), näh-
ren diesen Galgenhumor, mit dem er sich über
sich selbst und die Welt lustig macht. So ent-
deckte Paul Klee als erster neue zeichnerische
Ausdrucksmittel, die organischer, organisierter
als die trotzigen Manifeste des Russen Kandinsky,
doch immer noch weit weg genug van der ver-
haßten Gegenständlichkeit waren.
ltten träumte von der unmittelbaren Darstellung
seelischer Energien, die wie Sonnenexplosionen
wirken sollten, wie schwarze Kometen!
Alle diese Experienzen und Experimente lagen
nicht auf dem Wege Anton Koligs, aber die
heftigen Ausdrucksmittel Ittens, die empfind-
samen Kristallogramme Klees gaben ihm un-
bewußt ein neues Rüstzeug, eine neue Sprache
für nach unausgesprochene Reize der lebenden
Wirklichkeit. Es ist, als ob zwei Gegensätze sich
in Koligs Zeichnungen berührten, um eine neue
Einheit zu erzeugen. Einen noch unbetretenen
Weg: die Eroberung des Konkreten mit ab-
strakten Mitteln.
Die Fruchtbarkeit dieser Gestaltungsweise hat
gerade die starke Wirkung auf Boeckl bewiesen,
der von hier aus seinen ersten Aufschwung er-
fahren hat. Nicht nur zu seinen wundervollen
Zeichnungen der Frühzeit, sondern auch später
noch zu Bildern wie die Anatomie, oder zu den
großen Frauenakten, die der Vorstellungswelt
Koligs viel näherstehen als der Kakoschkas,
van Goghs oder der Matissens.
Mitte Mai 192i saß ich zum erstenmal in Nötsch
vor dem Modell - es war ein stämmiger Holz-
fäller -, und Anton Kalig stand hinter mir und
sah mir gespannt zu. Ich hatte damals ein Seme-
ster an der Konslhögskolan in Stockholm hinter