mir. Nach längerem tiefem Schweigen atmete
er erleichtert auf: „No Gottseidank! - Du bist
genau so ungeschickt wie ich!" Den Sinn dieses
Ausspruches habe ich erst später richtig verstan-
den. Es war nicht nur das damit gemeint, was
Richard von Schoukal in die Worte kleidete:
„Die allzu Verwegenen wird Gott gnädig seg-
nen, aber die allzeit Gewandten gehören schon
zu den Verdammten."
Für Kolig konkretisierte sich die hoffnungslose
Gewandtheit im Duktus, in der Handschrift, im
Strich. Die Mehrzahl der talentierten Adepten
betätigt einen viel zu selbstsicheren, virtuosen
Strich, der mit dem Zeichnen zu leicht-fertig
wird.
Bei Schilderung von Koligs origineller Methodik,
die zeichnerische Darstellung eines Aktes in An-
griff zu nehmen, teilte ich bereits mit, daß es
eine seiner typischesten, io stereotypen Hilfsvor-
stellungen war, daß der Körper des - liegenden
- Aktmodells als Landschaft erlebt, angesehen
werden müsse, damit die Monumentalität, der
Formenreichtum, die große Form, voll erfaßt und
wirksam gestaltet werden könne. Diese Feststel-
lung kann allerdings ieder bei aufmerksamer
Betrachtung seiner Akte auch unmittelbar aus
diesen selbst, aus deren quasi geographischen
Charakter, ablesen.
Herbert Boeckl hat diese autosuggestive Hilfsvor-
stellung Koligs sozusagen beim Wort genom-
men und ad absurdum weitergeführt. In man-
chen der Zeichnungen seiner Kolig-Zeit, zum
Beispiel in den Alleen von 1919, überlößt er es
dem Betrachter, in der Landschaft einen Akt
oder im Akte eine Landschaft zu erkennen; diese
inhaltliche Labilität lenkt jedenfalls die Aufmerk-
samkeit auf das Wesentliche: auf die Zeichnung
selbst. Zu dieser Zeit hat Boeckl seine einzigen
Männerakte gezeichnet - in Nötsch gab es
keine anderen Modelle - welche, die damaligen
zeichnerischen Darstellungsmittel Koligs verwen-
dend, doch um ein gutes Stück in der Richtung
seiner expressiven Rustikalität weitergehen. In
darauffolgenden Landschaftszeichnungen Boeckls
finden wir dann etwas wie Applikationen weib-
licher Formen (siehe W. Hoffmann „Zeichnungen
u. Aquarelle H. B2"). K. B. Palkovsky stellt in
seinem Buch über Kokoschka fest, daß dieser „in
der Bestrebung, eine möglichst große Roumtiefe
der Landschaft zu erzielen, zur Entdeckung von
konstruktiven Hilfselementen gelangte, mit denen
er ganz unglaubliche Möglichkeiten gewann.
Manchmal sind es völlig technische Mittel kreis-
förmiger, elliptischer, parabolischer und anderer
Formationen gewesen, welche ihm neue, unge-
wöhnliche Lösungen unter Benützung verschie-
dener Brennpunkte ermöglichten." Diese sehr
interessante Mitteilung des Schwiegervaters Ko-
koschkas bezieht sich auf ähnliche „Mehrwer-
tigkeiten", wie die von W. Hoffmann bei Boecki
aufgezeigten. Picassos Stilleben sind zu Land-
schaften monumentalisiert, seine Landschaften
wirken dagegen beengt wie Stilleben. Der
Stammvater aller dieser autosuggestiven Form-
vorstellungen, welche die Bildhaftigkeit unter-
bauen und verfestigen und damit zugleich eine
bei iedem dieser Künstler eigene Verzauberung
bewirken, ist aber Cezanne.
lch habe es mir versagen müssen, in diesem Auf-
satz auch über die Handzeichnungen Wiegeles
Erwägungen anzustellen. Diese außerordentlich
bemerkenswerten Kunstwerke liegen aber auf
einer gänzlich anderen Linie, die mit den übri-
gen hier angeführten Österreichern keine Be-
rührungspunkte hat und deren Genesis also eine
selbständige, umfassende Arbeit darstellen
müßte. lch möchte es vermeiden, relative Wert-
urteile abzugeben, aber mir erscheinen die
besten Zeichnungen Wiegeles so kostbar wie
Qll
Edelsteinschnitte aus der Hofwerkstatt Rudolfs ll.
in Prag.
Auch über die Zeichnungen Gerhart Frankls will
ich nicht ausführlicher berichten und freue mich,
daß dies ein Berufenerer tun will, aber nicht
verabsäumen kann idi hier darauf hinzuweisen,
daß in Frankls Handzeichnung, die auf der her-
vorragenden österreichischen Tradition seit Klimt
erwachsen, unter anderem neue Kräfte unmittel-
bar aus Cezanne und aus dem zauberhaften
Rhythmus gotischer Plastiken schöpfte, eine gna-
denvolle lnstöndigkeit zu Worte kommt, die es
mit Wiegele aufnehmen kann. Er hat dann in
England Baumlandschaften gezeichnet, deren
eigenartige Wildheit und Kraft, Unmittelbarkeit
und Faszination kaum ihresgleichen haben.
Zeichnungen wie sein Selbstbildnis vorn Jahre
1922 gehören zu den Höchstleistungen dieser
Zeit. Und Aquarelle, wie die Punta San Matteo
van 1927 (über diese Hochgebirgsaquarelle vgl.
Otto Benesch - Zur österr. Malerei der Gegen-
wart. Kunst und Künstler - Jhg. XXV - Heft 12,
September 1927 - S. 465.), haben niemand Ge-
ringeren befruchtet als Herbert Boeckl. Diese
Blätter setzen einen Schlußpunkt hinter die
grüßte Epoche der österreichischen Handzeich-
nung, welche mit ihnen einige ihrer vorläufig
letzten Kulminationspunkte erreicht hat.
Kolig hatte ein musikalisches Grundprinzip der
Handzeichnung entdeckt. Das waren keine Vor-
zeichnungen mehr, keine Nachzeichnungen einer
Bildvorstellung, sondern ieweils ein in sich aus-
gewogenes, eigenen Gesetzen - nicht der Bild-
haftigkeit - folgendes Ganze. Dynamisch und
eruptiv, aber abgeschlossen in einer Art von
linearem Kontrapunkt. Ein spontan auskristalli-
siertes Gefüge; weitgehend unbewußt, flüssig
hingeschrieben, energiegeladen und eindeutig.
Das ist die Form der besten Zeichnungen Koligs.
lhre Zielsetzung aber war bestimmt durch das
Bemühen, Gewalt und Größe des menschlichen
Körpers zu „begreifen" und festzuhalten. Und
so gelangte er zu seinen grundsätzlich neuen,
primären Recherchen, zu seinem völlig persön-
lichen Zugriff.
Vielen Künstlern diente die Handzeichnung wie
eine Vorhut, als kühne Avantgarde ihres Heer-
zuges, um möglichst weit in noch unrekognoszier-
tes Niemandsland vorzustoßen, in dem bei ie-
dem Schritt ein Hinterhalt droht. lch wählte die-
sen Vergleich, weil das Lebenswerk iedes Künst-
lers ein Feldzug ist, dessen Ausgang mindestens
von ebenso vielen Komponenten abhängig ist
wie das Kriegsglück.
Rodin ließ sich von seinen spontanen, verflie-
ßenden, einfallsreichen Federzeichnungen wie
von Träumen leiten. Er spannte sie als geflügelte
Rasse vor seinen Wagen. Sie waren ihm um
eine Generation vorausgeeilt, moderner als seine
Marmorplastiken, denen sie Wege in die Zu-
kunft weisen wollten.
So sind auch Koligs Zeichnungen - von allem
Anfang an - weit vorgeprellt ins Unbekannte
und haben dort an neue Welten gerührt.
Cl Unser Autor:
Bohdan Hefmansky
Akademischer Maler
Molä Strana, Nerudova 8
Praha l-Pasta Praha O11