Ich gebe zu, daß ich Kunstkritik für etwa Kreati-
ves halte, schon bei dem, was ihre erste Aufgabe
ist: Bericht und Analyse, die Feststellung der
Wahrheit über Kunst, und erst recht im Hin-
blick auf iene höhere Bemühung, die Darstellung
von Kunst ist, die Wiedergabe in einem neuen
Medium, welches sein eigenes Gesetz besitzt. Das
Nebeneinander des Bildes muß in das Nachein-
ander des Wortes umgesetzt werden.
Für eine Dummheit halte ich die Auffassung,
die vor solchem Tun, solcher Anstrengung warnt
und den Rat erteilt, ehrfürchtig und dummgIot-
zend vor dem Werk des Künstlers zu verweilen,
es allein „mit dem Gefühl" aufzunehmen und
um Gottes willen die Vernunft dabei um keinen
Preis ins Spiel zu bringen.
Der seiner Sinne und seines Verstandes mäch-
tige Mensch erlebt um so mehr an einem Werk
der Kunst, fühlt, empfindet seine Wirkung um
so tiefer, ie mehr er sich mit ihm befaßt, ie
gründlicher er es überlegt, ie umfassender und
genauer er es in Beziehung zu seiner bisherigen
Lebens- und Kunsterfahrung bringt. Vernunft kul-
tiviert das Gefühl. Die Beschäftigung mit Kunst-
werken und das Nachsinnen über sie machen
fähiger, machen geeigneter im Hinblick auf neue
Erfahrungen mit Kunst.
Der wesentliche Künstler, meine ich, ist im übri-
gen auch gar nicht der, der sich beleidigt fühlen
würde durch den Versuch des Betrachters, das,
was er an einem Werk der Kunst erlebt und
empfindet, in Worte zu fassen, wenn es dem
Künstler nur in genügender Weise verständig er-
scheint. Er wünscht sich ein Publikum, das auf
ihn eingeht, das ein Urteil hat. Der Enthusias-
mus des Kunstgenießenden wird ihn erfreuen,
doch keineswegs ist es die bloße Backfischschwär-
merei, welche in ihm das höchste der Triumph-
gefühle erregt.
Wer denkt, erlebt mehr, erlebt tiefer. Das Nach-
denken über Kunst macht fähiger, Kunst zu er-
leben, und im übrigen auch fähiger, Kunst zu
schaffen. Nicht zuletzt aus diesem Grunde wer-
den gerade von Künstlern immer wieder Überle-
gungen über Kunst angestellt, von dem bereits
zitierten „Kanon" des Polyklet bis zu den Aus-
führungen der ganz Modernen. Kritik, ich
wiederhole, heißt scheiden, unterscheiden. Kri-
tik ist Beurteilung, und sowenig Kunst aus bloß
physiologischen oder reinen „Gemüts"-Reaktio-
nen entsteht, sowenig ist die Beurteilung von
Kunst allein aus dem Gefühlsleben möglich.
Aus der Beobachtung der Praxis von Künstlern
ebenso wie aus deren verbalen Äußerungen, die
zahllos sind und ganze Bibliotheken füllen, weiß
man, daß Künstler Kritik üben und geübt haben,
nicht allein an dem Werk anderer Künstler, san-
dern auch an dem eigenen, und nicht zuletzt im
Schaffensprazeß selber, der, näher betrachtet,
wesentlich auch ein kritischer Prozeß ist. Der
Künstler verwirft, während er die Form sucht,
den treffenden Ausdruck sucht, und bejaht; er
vernichtet, lößt bestehen, sucht das Bestehende
noch zu verbessern, was heißt, daß er wieder
verwirft. Solcherart ist auch ein iedes bestehen-
gebliebene Werk nur ein Punkt in dem Prozeß
der Auseinandersetzung des Künstlers mit der
Welt, ein Werk, welches das Kommende vorbe-
reitet, das es aufs neue zu verbessern sucht, und
so fort.
Das Kunstwerk als Botschaft
Wenn also Kritik etwas ist, das beim Künstler
beginnt und beim Publikum sich fortsetzt, wel-
dies ebenfalls das Recht beansprudit, Urteile zu
fällen, und es natürlich auch hat (soweit erwor-
ben, denn Urteilsfähigkeit setzt Willen, setzt
Bemühung um den Gegenstand voraus), dann
muß das kritische Tun auch für den Kritiker le-
QQ
gitim sein. Kunstwerke sind nicht nur Formsuche,
Persönlichkeitsausdruck, Auseinandersetzung des
Künstlers mit der Welt; sie sind auch Botschaf-
ten, an andere Menschen gerichtet. Dem Sach-
verhalt gemäß wird auch der Künstler zugeben,
daß, wenn diese Botschaften ihr Ziel nicht errei-
chen, die Schuld nicht immer bei denienigen
sein muß, für welche die Botschaft bestimmt ist.
Zur Praxis
Es ist eine fixe Idee von mir, doß es, in Kunst-
büchern zumindest, wo immer möglich, einen
begleitenden, erläuternden und das BiIdgesche-
hen ins Sprachgeschehen umsetzenden Text, am
besten zu jedem einzelnen Bild, geben soll. Ohne
genaue Beschreibung sind Bilder meist schwer
auch nur halbwegs auszuschöpfen, es sei denn
für den seltenen Mann, der schon von vorneher-
ein alles weiß, und ich denke, Bücher und Auf-
scitze werden in der Hauptsache doch mehr für
die anderen geschrieben, für iene häufigere
Spezies von Bildbetrachtern, die nicht von vorn-
herein alles wissen.
In der Zeitungskritik habe ich es mir zur Ange-
wohnheit gemacht, ieweils wenigstens das eine
oder andere Bild herauszugreifen und es kurz
zu beschreiben. Der Leser soll sich einen Be-_
griff davon machen können, was ihn in der Aus-
stellung erwartet. Lehnt der Kritiker das Bild,
eine Ausstellung ab, soll er die Gründe dar-
legen.
Früheste Aufgabe des Kunstkritikers war die In-
formation. Ein etwas schüchternes Wesen, machte
er sich anfangs, soweit er überhaupt urteilte,
erklärtermaßen die Meinungen zu eigen, die von
den Liebhabern der Kunst geäußert wurden in
den Zirkeln der guten Gesellschaft. Auf Denis
Diderot, den ersten, der sein Urteil auf die
eigene Kappe nahm, sind Legionen von Kritikern
gefolgt, kluge und weniger kluge, in der Hond-
habung des Worts begabte und weniger be-
gabte, aber immer noch ist es Aufgabe des
Kunstkritikers, zu informieren.
Wie es um die Dinge heute steht, hat er, um
sein Amt auszuüben, in den Tageszeitungen
nicht allzuviel, ia in der Regel viel zuwenig
Raum. Das ist eine der Ursachen, warum die
Information oft kärglicfi ausfällt und weder die
Gründe des Urteils genügend ausgeführt wer-
den können, noch Kunst wirklich dargestellt wer-
den kann. Das Urteil kommt in solchen Fällen
abrupt oder auch überhaupt nicht, die Kritik
wird zum Torso, zum Apercu, zur Notiz.
Die Information soll meiner Meinung nach das
Simpelste (von den Angaben über Ausstellungs-
ort, Name, Alter, Herkunft und Ausbildungs-
gang des Künstlers bis zur Kennzeichnung der
Thematik) ebenso umfassen wie die weit schwie-
rigeren Sätze über künstlerische Eigenart.
Alles das gilt sinngemäß und naturgemäß auch
für die Besprechung von alter Kunst. Der All-
roundman, der beides zu besprechen willens
und imstande ist, die alte Kunst und die mo-
derne, wird seiner Aufgabe eben deshalb auf
iedem der beiden Felder besser nachkommen
können. „Es gibt keine moderne Kunst", schrieb
Schiele einmal, „es gibt nur eine Kunst, die ist
immerwährend". Aber natürlich gibt es einen
Formenwandel in der Kunst. Das universale In-
teresse wird den Blick des Kritikers nicht allein
für die Zusammenhänge, sondern auch für das
Charakteristische auf iedem der beiden Felder
schärfen.
Methode der Wertung
Schon mit der Beschreibung der Werke ist na-
turgemäß Analyse verbunden. Auf die Analyse
folgt Wertung. Zur Wertung müßten - bei
strenger Systematik folgerichtig - Angaben dar-
über kommen, was das Werk nach der Me
des Kritikers für die akute Situation und el:
was es für die Entwicklung des Künstler:
der Kunstgattung überhaupt bedeuten ki
Was mitzuteilen ist, soll nicht auf präpz
Weise vorgebracht werden, sondern möglic
Kürze, den Versuchscharakter hervorheben
man nicht sehr sicher ist, und möglichst
einfach und mit Eleganz.
Ich spreche von ldeolforderungen. lnsbeso
die wertende und unterscheidende Arbei
Kunstkritik ist um so schwieriger zu erl
als der Kritiker zum Unterschied vom Ki.
storiker [a im Augenblick reagieren muß.
Publikum will eine rasche Antwort, und :
fordert der waghalsige Beruf des Kunstkr
einen Mut, eine Selbstverantwortung, einen
sinn von besonderer Stärke. Wie leicht kar
Kritiker irren, und wie leicht ist, wenn e
einige Male irrt, sein Renommee dahin.
gemäß gibt es keine größere Freude fü
als wenn sich herausstellt, daß der Künstler
auch eine Richtung, von denen er schon
früh etwas hielt, schließlich durchbrechen,
haben und am Ende auch die Anerkennur
dächtigerer Gemüter finden.
Immer wird der wertende Kritiker nach d
weiligen Absicht des Künstlers zu fragen l
und danach, wie weit sie erfüllt ist. Er
ferner auch die Frage stellen, was mit
solchen Erfüllung nun eigentlich getan ist.
Damit sind wir an einem besonders krit
Punkt der Kritik angelangt, nämlich dort, w
Philosophische und Weltanschauliche ihre
zu spielen beginnen, die persönlichen Vor
eines Kritikers und seine Vorstellungen
Sinn und Zweck der Kunst überhaupt. l-
Format, so wird er auch hier nach mögli
Sachlichkeit trachten,wobei er, wenn er lek
bleiben will, freilich nicht so weit gehen
daß Temperament und Parteinahme ver
gehen.
Eine Kunst über Kunst
Über moderne Kunst wird in der Regel nic
geschrieben, um das Publikum zu inforrr
sondern auch, um es einzunehmen für eine
stimmten Künstler, eine bestimmte Richtun
derlei Bücher, Aufsätze und Zeitungsartik
ben nicht zuletzt die Funktion, für zeitge
sches Kunstschaffen überhaupt zu werben.
Diese agitatorische Arbeit wird von der
kritik in nützlicher und erfolgreicher Weise
geleistet werden, wenn erstens die Wültfltt
bei nicht zu kurz kommt und zweitens der
ker des Wortes mächtig ist, wenn er un
zen, in einem anderen, dem Publikum mei:
ser vertrauten Medium Wirkung auszuübe
steht.
Versteht er es und hat er Methode und de:
gen Spürsinn entwickelt, so ist die Kuns
die er vor Augen stellt, nicht allein Beschre
Information, Analyse, sondern auch, wi
deutsche Kritiker Franz Roh einmal meinte
Kunst über Kunst.
l Peter Bruegel, Künstler und Kenner.
Zeichnung, Albertina, Wien.
2 Honore Daumier, Les Amateurs dans un
de peintre. Aquarell.
Literatur:
Egzgäar zum. Die Entstehung des Geniebegriffs. t
Franlz Roh: Der verkannte Künstler. München ms.
Albert Dresdner: Die Entstehung der Kunstkritik
chen 1968.
Ü Unser Autor:
Professor Johann Muschik
Kunstkritiker
Lerchenfelclergürtel 2713140
1160 Wien