I Österreich
Aktuelles Kunstgeschehen I Wien
Wien
Museum des 20. Jahrhunderts
Jacques Lipchitz, 25.10.-5.12.1971
Die von der Nationalgalerie in Berlin zusammen-
gestellte Wanderausstellung gab anhand von
78 Bronzen und 30 graphischen Blättern einen
instruktiven Einblick in das Lebenswerk des 1891 in
Litauen geborenen Bildhauers. Lipchitz besitzt
seine wesentliche kunstgeschichtliche Position
zweifellos zur Zeit des Kubismus und in den knapp
darauffolgenden Jahren um 1915ll6. Er schuf
damals autonom-abstrakte Skulpturen von denkbar
großer Strenge und klarem Aufbau, bestimmt
durch die Suche nach „einer dreidimensionalen
Form für die kubistische Verschmelzung von
Körper und Hohlraum". Erfreulicherweise enthielt
die Wiener Retrospektive mehrere dieser
bekannten und typischen Frühwerke, gegenüber
denen das barock-pathetische Alterswerk in seinem
zwar gefühlsbedingt verständlichen, von der
Farm iedoch viel zuwenig geläuterten expressiven
Überschwang klar abfiel (Abb. 1).
Galerie Schottenring
Kumi Sugai, 18.11.-23.12.1971
Der erste, als schätzenswerte Initiative der Ersten
Usterreichischen Spar-Casse von einer Wiener
Galerie gebotene repräsentative Überblick über das
Werk des seit 1952 in Paris lebenden Japaners.
Sugai zählt heute zu den wichtigsten Malern einer
vorwiegend geometrisch bestimmten Abstraktion.
Seine Bilder und Siebdrucke der letzten Jahre
basieren auf einer in gleicher Weise intuitiv wie
intellektuell geprägten spannungsreidien Harmonie
sehr spezifischer bildnerischer Überlegungen.
Sugai bevorzugt reine Farben und die geometrischen
Grundformen Kreis und Quadrat. Er verbindet
und akzentuiert diese iedoch zumeist mit groben
bis feinen Schraffen, die einerseits als Verbindungs-
stege fungieren, zum anderen aber auf eine
radikale Ausweitung des Eildgeschehens in den
freien Raum gerichtet sind. Ein Bildvokabular
von beinahe monumentaler Strenge erfährt so
nicht nur eine verhältnismäßig große Variations-
breite, sondern auch iene strukturelle Folgerichtig-
keit in Richtung einer visuellen Umwelt-
kommunikation, die vom Tafelbild und Siebdruck
über Wandgestaltungen bis zum dreidimensionalen
Obiekt reicht. Diese neue Phase Sugais wurde
in Wien durch acht Bilder, datiert von 1968 bis 1971,
charakterisiert. Einen breit angelegten Querschnitt
spiegelte hingegen die Graphik, die mit 31 Farb-
lithos und Siebdrucken alle wesentlichen Abschnitte
des Gesomtwerkes zwischen 1957 und heute
dokumentierte und damit auch den für Sugais Werk
so spezifischen Übergang von einer in der
Tradition ostasiatischer Kalligraphie wurzelnden
Pinselschrift und symbalhaften Gestik bis herauf
zu den heutigen konstruktivistischen Formen
aufzeigte (Abb. 2).
Galerie Ariadne
Heinrich Heuer, 9.12.1971-15.1.1972
Innerhalb der ästerreichisdten Drudrgraphik
nimmt Heinrich Heuer schon seit Jahren einen der
vordersten Plätze ein. Seine in samtigen Abstufungen,
in behutsam ineinandergreifenden und einander
ergänzenden Valeurs und Kontrasten tanigen
Helldunkels gehaltene Bildwelt wird von zumeist
motivbestimmenden Symbolen beherrscht. Sie
bevorzugt das Geheimnis surrealer, gegenstands-
bezogener Chiffren und nötigt zum Nachdenken,
zu näherem Eindringen in diesen Kosmos geheimnis-
voller Puppen, Figuren, Spielzeuge, Hände,
Landschaften und der - offensichtlich bevorzugten -
Vögel, die vorn Künstler gleichsam als Archetypen
von Deutung und Bedeutung, als „Vermittler
zwischen zwei Welten" gleichnishaft fixiert und in
immer neuen Zusammenhängen interpretiert werden.
Secession
Der Blaue Reiter, 8.-24.10.1971
Die van Wien prapagandistisch mangelhaft
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unterstützte, von der Städtischen Galerie München
freundlicherweise überlassene Sonderschau des
Blauen Reiters (Versicherungswert: 150 Millionen
Schilling) muß als einer der seltenen Ausstellungs-
höhepunkte des Jahres 1971 gewertet werden.
Sie konfrontierte mit einigen Dutzenden von
Werken, die in der Entwicklungsgeschichte der
Moderne historische Stellenwerte einnehmen.
So z. B. Kandinskys frühe Bilder einschließlich der
„Improvisation Nr. 26" aus 1912, die den Aufbruch
zur Abstraktion bedeuteten. Franz Marcs berühmtes
„Blaues Pferd I" (1911) sowie mehrere zwischen
1910 und 1914 entstandene mittlere Formate von
August Macke. Kubin, der große Visionär,
war mit ganz frühen surreal-dämonischen
Gleichnissen anzutreffen, Heinrich Campendonk mit
dem poesievoll-harmonischen „Bild mit Kuh,
um 1920". Alles in allem: ein willkommenes Nach-
holverfahren für iene, die die erste Wiener
Nachkriegsausstellung von Werken der um 1910
wegbereitend wirkenden Münchener Künstler-
gemeinschaft nicht sehen konnten (Oberes
Belvedere und Neue Galerie Linz, 1961) (Abb. 3).
6 iunge Österreicher. 1.-30.11.1971
„6 iunge Österreicher" - ein von Kristian Sotriffer
im Rahmen der „Action Tusc " ausgewählter
Querschnitt durch aktuelle bildnerische Tendenzen,
aufgezeigt an Beispielen von sechs zumeist der
Generation um 30 angehörigen Künstlern.
Adam Jankowski: politisch engagierte Tafelbilder,
Obiekte, Collagen und Zeichnungen. Peter
Kalivoda: Abstraktionen, basierend auf dem
Zueinander der Schwingungswerte paralleler
Farbbahnen, die dem Regenbogenspektrum ent-
sprechend bzw. in chromatischen Abstufungen
gesetzt werden. Helmut Krumpel: figurative
Malerei, „AufforderungsobiekW aus Plexiglas und
Holz. Kurt Lackner: „Der Vorgang des Malens
ist für mich Anlaß, außerhalb des Exerzierfeldes
der Gedanken und der unsicheren, dauernd sich
verwandelnden Realität ein gewiß mythisches
Bewußtsein zu realisieren." Fritz Steinkellner: be-
malte Holzobiekte, Entwurfzeichnungen, Ulbilder.
Dazu der Künstler: „Ersatzteile wie Prothesen,
die für Gehbehinderte eigens angefertigt werden.
Eine Ergänzung, die einen Raum und ein Gehen
vorschreibt. Auch für meine Bewegungen bietet
dieser Raum genügend Platz." Reimo S. Wukounig:
realistische figurative Malerei, beeinflußt von der
kritischen Kälte und der neuen Dingerfahrung
eines Klapheck (Abb. 4, 5, 6, 7).
Helmut Kurz-Goldenstern, 1.-31.10.1971
Unter den zahlreichen, iedoch zu kurzen Aus-
stellungen in der Keller- bzw. Clubgalerie der
Secession gelang mit der Präsentation der
satirischen, zeitkritischen, sensibel-spannungs-
reichen Zeichnungen von Kurz-Goldenstern
eine lohnende Entdeckung (Abb. B).
Kunstkabinett
Carry Hauser, Frühwerke, 26.11.-31.12.1971
Eine interessante, erstaunlich reichhaltige Kollektion
von Zeichnungen, Aquarellen und Gouachen,
entstanden zwischen 1910 bis 1'724.
Zentralsparkasse
Elisabeth und Helfried Kodre-Defner
12.-28.10. 1971
Eine qualitätvolle Auswahl van 83 Goldschmiede-
arbeiten der Jahre 1966 bis 1971, gezeigt in
der Hauptanstalt des Instituts. Auffallend der
erfreuliche Wandel an Gestaltungsmöglichkeiten
und adäquat genutzter Materialverarbeitung.
Besonders interessant: die iüngst entstandenen
Steckreliefs. In ihnen trifft man auf aktuelle
Tendenzen der geometrischen Abstraktion in Ver-
bindung mit eher romantisch zu charakterisierenden,
meist zentral gesetzten „Blumen" bzw. rhythmisch-
seriellen Musterungen, die diesen einer ungewöhn-
lichen Ästhetik gehorchenden Broschen ein die
üblichen Schmuckattribute bei weitem übertreffendes
Flair verleihen. Insgesamt ein deutlidter Hinweis
auf erste Qualität und eine bei beiden Designern
gegebene, durch großen Einsatz, gepaart mit
Sensibilität, bewirkte Profilierung. Bemerkenswert:
der elegant ausgestattete Katalog (Abb. 9).
Internationaler Künstlerclub
Franka Lechner, Tapisserien und Collagen
21.l0.-17.11.1971
Erfreuliche Fortschritte vor allem in den ideen-
reichen, subtilen und durchaus eigenständigen
Collagen.
Galerie nächst St. Stephan
Peter Pongratz, 19.10.-13.11.1971
Dem zur Gruppe der „Wirklichkeiten" zählenden
Maler geht es neuerdings um die Aufhebung
einer an Triviolklischees gebundenen spezifischen
Vorstellung von Kitsch mit eben ienen Elementen,
die diesen Kitsch (oder Nichtkitsch, wie der Künstler
meint) ausmachen. Indern Pongratz neuen Kitsch
in Anlehnung an das 19. Jahrhundert schafft (riesige
Schutzengelbilder im „Katechismusstil", Land-
schaften, einen Zwölfender in Eissalonnähe und
ähnliches) und diesen - aus Überzeugung oder
des Gags wegen? - zur Kunst erklärt, bezieht er
zwar im Ästhetischen Stellung, liefert iedoch
keinerlei neue Argumente, die die von ihm
gewünschte Umwertung und Nivellierung diskutabel
machen könnten. Interessant hingegen scheinen
die soziologischen Folgerungen, die sich an die
neuen Arbeiten knüpfen lassen.
Galerie in der Passage - Meina Schellander
Gongseinslagen, 8.10.-7.11.1971
Zeitkritische Obiekte, Modelle und Graphiken auf
Bilderrechen der iungen Kärntner ,Bauerin" (Ab.10).
Kleine Galerie
Karl Kreutzberger, 28.10.-16.11.1971
Innerhalb des reichen Ausstellungsangebotes der
Kleinen Galerie stellten die Aquarelle des 1916
geborenen Wieners Karl Kreutzberger einen
Pluspunkt dar. Feinnervig Graphisches und
nuancierte flächige Partien greifen in ihnen kon-
genial ineinander und verdichten sich in den
besten Beispielen zu spannungsreichen abstrakten
Kompositionen. Die Blätter des Sezessionisten
spiegeln Sensibilität, gepaart mit den Vorzügen
einer noblen Malkultur.
SR Gertraud Kriebel, 18.11.-7.12.1971
Qualität und persönlicher Einsatz ließen sich auch
bei den hervorstechendsten Arbeiten von
Schwester Gertraud Kriebel, einer ehemaligen
Schülerin Herbert Boeckls, feststellen. Die Zeichnung
„Steinbruch mit Haus" verrät Überlegtheit im
formalen Aufbau, dessen gesetzhaften und bild-
nerischen Notwendigkeiten es der Künstlerin
besonders angetan haben. Ähnliches gilt auch für die
besten der farbig zarten und dennoch von einer
gewissen Herbheit getragenen Aquarelle (Abb. 11).
Galerie Basilisk
Hans Staudacher, Helmut Schober,
Mario Giacomelli, 1.-30.11.1971
Ein Ausstellungskonzentrat der Kontraste.
Staudachers so gut wie unbekannte Tuschzeichnungen
vor 1948 wurzeln im Expressionismus. Sie
verraten im Thernatischen und im Stimmungsgleich-
klang Ähnlichkeiten zu Alfred Kubin, nehmen
in der Vehemenz eines unerhört sensiblen und
sicher zupackenden Duktus iedoch auch den
späteren Staudacher lyrisch-informeller Grund-
haltung vorweg. Eine verdienstvolle, intime Schau!
Als „emotional artist" stellte sich - mit einem
größeren Objekt und mehreren Zeichnungen - der
1947 in Innsbruck geborene, in Italien lebende
Helmut Schober vor. Sein Verspannungsobiekt
verriet - ohne eine inhaltliche Deutung anzustreben
- die die Relativitäten heutiger „Kunstbemühungen"
aufzeigende Dialektik, welche in den gefühls-
bedingten, materiellen und intellektuellen
Komponenten dieser Riesengraphik im Raum
interpretierend zu suchen ist.
Eine wertvolle Ergänzung dazu bildeten die Fotos
des ltalieners Mario Giacomelli, in deren
Mittelpunkt Bilder aus den inzwischen weltbekannten
Reportagen über Lourdes und italienische
Altersheime standen (Abb. 12). Peter Baum