Dorotheum
KUNSTABTEILUNG WIEN l., DOROTHEERGASSE 11,
Tel. 52 3129
597. Kunstauktion
19., 20., 21. und 22. September1972
Gemälde alter und moderner Meister. Graphik.
Skulpturen und Holzarbeiten, antikes Mobiliar,
Antiquitäten, Asiatika. Waffen
Besichtigung: 14., 15., 16., 17. und 18. September 1972
IXU nstmarkt
Mailänder Marktimpressionen 1972
Im Gegensatz zu Florenz oder Rom, deren Kunst-
handel in höchstem Maße die Kunst aus der
Tradition und aus der Vergangenheit heraus
interpretiert und vertritt, ist Mailands lebhafter
Kunstmarkt in stärkster Weise von den modischen
Gegenwartstendenzen geprägt.
Neunzig Prozent der Mailänder Kunstgeschäfte
sind in den Längs- und Querstraßen um die Via
Monte Napoleone etabliert. Die Via Manzoni, Via
Bigli und Via della Spiga begrenzen dieses Kunst-
quartier.
Im Gegensatz zu Florenz und Rom, wo der
Antiquitätenhandel eigene in sich geschlossene
Lagen innehat, fällt uns in Mailand die
Verschmelzung der Geschäftslagen des modernen
Kunstgewerbes, der Alta Moda, der Juweliere mit
den kleinen Galerien und den Antiquitäten-
geschäften auf. Jede momentane Modeströmung
äußert sich sofort spontan durch ihre Spiegelung in
der Auswahl und Darbietung der alten Kunst. Im
Unterbewußtsein vollzieht der Besucher diesen
Prozeß selbst mit. Der Berichterstatter ertappte sich
dabei, wie er nach genußvoller Betrachtung
strenger funktioneller Formen neuen Tafelgerätes,
an Modeboutiquen varbeischlendernd, die auf-
fallend „Klimtsche" Dessins und Linien zeigten,
fasziniert vor einem Antiquitätengeschäft stehen-
blieb, das inmitten älterer Objekte drei hinreißend
schöne Emailvasen aus den zwanziger Jahren
ausgestellt hatte. [Art Deko, Preise zwischen 18.000.-
und 25.000.- Schilling!) Andere Geschäfte voll-
ziehen die strengen Bauhaustendenzen durch die
Ausstellung einfacher englischer Landhausmäbel des
19. Jahrhunderts oder aber durch die Betonung der
zeitlosen Schönheit einfacher lnterieurs des 15. bis
17. Jahrhunderts. Der reich dekorierte Jugendstil
eines Galle scheint nicht mehr so aktuell wie die
strengeren, späteren Formgebungen Laliques.
Ebenso scheint das noch vor wenigen Jahren so
unfaßbor teure venezianische Rokoko, speziell die
farbig gefaßten Lackmöbel, heute weniger gefragt,
und die Preise dafür sind etwas gesunken. Tullio
Silvas Galerie in der Via Sant'Andrea ist in dieser
Sparte in ganz Italien führend.
Im Vergleich mit südlicheren Städten sieht man
weniger alte Gemälde in Mailand, diese aber in
einigen sehr guten Galerien. Dafür wird verhältnis-
mäßig mehr gutes Kunstgewerbe - Porzellan,
Fayencen und Silber des Barock und Rokoko -
angeboten, allerdings zu hohen Preisen.
Das Auktionshaus Geri, in einem großartigen
romanischen Palast situiert, orientiert sich mehr und
mehr zur italienischen Malerei des späten 19. Jahr-
hunderts. Dr. Aldo Geri sagt uns, doß der Käufer
dieser Epochen mehr innere Sicherheit fände, die
Meisterfragen sind klar, und daß gerade die Epoche
der europäischen Dekadenz zur Zeit besonders
aktuell sei.
Wir buchen 1972 wieder - wie immer - als Fazit des
Mailandbesuches die erfrischende Erkenntnis einer
schönen Gegenwortssituation, einer Zeittendenz, die
- auf Obiekte der Vergangenheit angewandt - uns
lehrt und hilft, das Moderne, heute Gültige unter
der alten Kunst zu erkennen und auszuwählen.
Mailand schenkt uns ein starkes Bewußtsein der
Gegenwartskultur, dies ist seine Gabe im reichen
Füllhorn Italiens. V
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