hannes liege. Die Heilige Schrift, auf die sich
das Bild nach Herkunft und Verständnis bezieht,
legt nahe, daß der Inhalt der Tröstung die
Schriftgemäßheit der Vorgänge, wie wir von
Lukos hörten die Schriftgemäßheit der Situation
ist.
Diese Schriftgemäßheit spielt in der Auffassung der
Passionsvorgänge eine bedeutende Rolle. Id1 möchte
an den Bericht des Ganges nach Emmaus erinnern
(Lk. 24, 13-35). Nach der Schilderung des Weges
durch den Evangelisten und nach der Rede der
Jünger, die dem unerkannten zu ihnen getretenen
Christus, der mit den Vorgängen in Jerusalem
anscheinend nicht vertraut gewesen war, die Ereig-
nisse geschildert hatten, hat Jesus selbst die Schrift-
gemäßheit hervorgehoben. O ihr, die ihr unverstän-
dig und zu trägen Herzens seid, um zu glauben an
alles, was die Propheten geredet haben. Mußte nicht
der Christus dies leiden und dann in seine Herrlidt-
keit eingehen? Und er begann ihnen bei Mose und
bei allen Propheten und legte ihnen in allen Schrif-
ten aus, was über ihn handelt. - Das gleiche hat sich
bei der Erscheinung Christi vor den Elfen (k. 24, Mff.)
wiederholt. Die häufigste Betonung der Schrift-
erfüllung, und zwar nicht in der Form einer Ausle-
gung durch Christus, sondern als Reflexion und Er-
kenntnis des Verfassers, als Zusatz schon zu der
Erzählung, kennzeichnet das Denken gerade des
Johannes, der sich hier mit dem seinem Gebet
erwachsenen Troste an Maria wendet. So betont
Johannes mehrmals, als das Los über die Kleider
geworfen wurde (Jh. 19, 24), als es Christus dürstete
(Jh. I9, 2B), als die Seite Christi durchbohrt wurde
(Jh. 19, 37), daß alles dies sdtriftgemäß vor sich
gegangen sei.
In diesem Umkreis ist die Tröstung des Jo-
hannes zu verstehen. In einer strengen Ausle-
gung, die wir Cranach schulden, ist aber fest-
zuhalten, daß Cranach die Tröstung nidwt nach
ihren Mitteln und Argumenten gekennzeichnet
hat, sondern danach, für was sie als Trost zu
gelten habe, als eine Antwort, aus dem Gebet
14
hervorgehend, an eine schmerzvolle, traurige,
fragend das antwortlose, dornengekrönte Haupt
ihres Sohnes suchende Maria. Beides, Frage wie
Antwort, als Erfüllung der Situation, inmitten der
ins gleiche gebrachten und darin geschiedenen
Gekreuzigten zu sein.
Diese Komposition, deren Bedeutung ICI! viel-
Ieidtt ihrer Didtte nach näher kennzeidtnen
konnte, ist so erstaunlich, daß die Frage sehr
berechtigt erscheint, ob sie ganz oder, wenn
nid1t, wieweit sie aus Cranachs eigenem Vorstel-
Ien und seinem Bilden erwachsen sei. Als zweite
Frage schließt sich die nach dem richtigen Titel
des Bildes an, der in „Kreuzigung" oder in
„Christus am Kreuz" nicht gefunden sein kann.
Im Bereich der bildenden Kunst konnte, soweit
ich sehe, bisher kein Vorbild gefunden werden,
zu dem Cranach sich verhalten hätte. Ich mödtte
darum die Aufmerksamkeit auf zwei miteinander
verbundene Traditionen der Geschichte der Li-
teratur, insbesondere der deutschen, lenken:
auf das Possionsspiel und die Marienklage.
Die Geschichte des Passionsspieles hat, laut
Ehrismann, drei Perioden: die Anfänge liegen
im 13. Jahrhundert, seine Ausbildung im 14.
Jahrhundert, die Blütezeit dauert von 1400 bis
1515, also zu der uns interessierenden Zeit,
darauf folge sein Verfall". In dieses Passions-
spiel pflegt die Marienklage, die auch selb-
ständig vorkommt, teils als eigene Szene, teils
in einen längeren Gang der Golgothobegeben-
heiten verflochten, eingebaut zu sein". Zunächst
die selbständige Marienklage.
Eine Marienklage, das ist genau dasienige, was
wir auf Cranachs Gemälde vor uns sehen, denn in
dieser ist nicht Christus, sondern Maria, vor
dem Kreuze Christi stehend, die Hauptperson.
Sie beklagt sein Leiden, seinen Schmelz, seine
Wunden, beklagt seinen Tod und beklagt um
deswillen sich selbst, solcherart ihre Sit
aussprechend. In einem Beispiel:
XVIII.
I. öwe der iaemerlichen klage,
die ich muoter einiu trage
von des tödes wäne!
Il. weinen was mir unbekant,
sit ich muoter was genant
und doch mannes äne.
Ill. nü ist ze weinen mir geschehen,
sit ich dinen töt muoz sehen,
den ich äne swaere gar
muoter unde meit gebar.
V. äwe kint, diu wengel sint
dir so gar erblichen;
al diu kraft, al diu maht
ist dir so gar entwichen.
dine nöt diu noetet mich,
din bluot daz roetet mich,
din töt der toetet mich.
Diese Strophen stammen aus dem von
Schönboch in seiner einschlägigen Untersi.
hergestellten
Normalbestand einer M
klage ".
Zumeist tritt Johannes als Tröster hinzu, d
Trost auf die Vorherbestimmtheit und dan
die Notwendigkeit und auf den Zweck d:
dens und Sterbens Christi hinweist, so z. B.
Lichtenthaler Marienklage I5.
97.
100.
103.
106.
Frawe, ez wart alzo gedaht,
e deu werlt burde vollebraht,
daz er sterben solte
An ainem galgen alz ain diep,
dem deu werlt ward alzo liep,
daz er si losen bolde
Von dem piterleichen tat:
daz sprach selbe der milte gat
zu seinem liebsten kinde.
Dar zu ist dein sun erkorn,
der da von dir ist geporn:
da von der klag erwinde!
In einer Marienklage aus Böhmen "', OL