Künstlers versehen ist und versehen sein muß.
Es ist geradezu ein Vergnügen, mit den Fingern
tastend in die Kaschauerische Faltenprägung ein-
zudringen und dort die konsequente naturali-
stische Virtuosität wahrzunehmen. Diese Virtuosi-
tät entbehrt der Technischen Übersteigerung des
Stils des letzten Drittels des 15. und ersten Drit-
tels des 16. Jahrhunderts; sie betrifft einzig und
allein die charakteristischen Merkmale Kasch-
auerischer Stilprägung: kräftig und markant legt
sich der Stoff in seine gewollte, modellierte
Form, alle Höhen und Tiefen, alle Überschnei-
dungen, alle Umkehrungen sind ganz präzise
und exakt der Natur nachgebildet, die Veriün-
gungen nach rückwärts zu ausgewogen und
durchdadtt, es gibt keinen Fehlschnitt und kei-
nen Kompromiß, wenn auch das Gras der Falten
der künstlerischen Phantasie entspringt.
Das Erkennen aller dieser Merkmale beruht auf
dem menschlichen Auge, welches angesichts
einer der genannten monumentalen Mariendar-
stellungen die Tiefenwirkung und das gesamte
konstruktive Gepräge körperlich erfassen kann.
Die Eigenhändigkeit einer Kaschauerisdwen Ar-
beit auf Grund von Photographien zu bestimmen
wird daher immer einen Unsicherheitsfaktor of-
fenlassen, zumal die starke Verkleinerung und
die individuelle Ausleuchtung in der Regel dach
nur imstande sind, den Stil, aber nicht die Hand
des Meisters wiederzugeben.
Zu Beginn der fünfziger Jahre unseres Jahrhun-
derts fand sich in einer Privatkapelle in Wallsee,
Oberösterreich, das früheste der bis ietzt wieder
aufgetauchten Hauptwerke unseres Meisters. Die
Skulptur stammt nach glaubwürdigen Angaben
des ursprünglichen Besitzers aus Purgstall an der
Erlauf, Niederösterreich (Erbauungszeit der goti-
schen Pfarrkirche 1412-1450), von wo sie laut
Überlieferung zur Rettung vor den napoleoni-
schen Plünderungen auf einem Ochsenkarren in
ein Versteck nach dem Fundort gebracht, aber
niemals mehr retourniert wurde. Sie befindet sich
heute im Metropalitan Museum of Art, New
Yark (Abb. 1, 4, 7)f. Die PURGSTALLER MA-
DONNA repräsentiert als frühestes erhaltenes
Werk des Meisters schan den voll ausgeprägten
Kaschauerischen Stil mit all seinen genannten per-
sönlichen Eigenheiten. In der Grundkonzeption
zeigen sich aber noch am deutlichsten die An-
klänge an die vorangegangene Epoche des Wei-
chen Stils: Die S-Krümmung mit dem geneigten
Kapf, das vorgewölbte Becken und die nach be-
sonders reiche Detailausführung gehen konform
mit ihrem idealisierten Gesicht der Schönen Ma-
donnen und dem noch unproportionierten Jesus-
kind. Ein Vergleich mit der Freisinger Skulptur
überzeugtuns van dergleichen Autorschaft. Kasch-
auers Stil ist bereits voll zum Durchbruch gekom-
men, alle seine persönlichen Eigenheiten sind
vorhanden, aber doch spürt man die Jugend des
Meisters, dessen Schaffen die ldealisierung an-
haftet. Die Durcharbeitung sämtlicher Stoffpar-
tien verrät noch die Freude am Detail: sorg-
fältigste Behandlung der Säume, das Kopftuch
ist mit Fischgrätmuster belebt. Die Falten sind
extrem tief geschnitten. Die kommende Groß-
zügigkeit in der Gesamterscheinung ist schon
da, aber in der Fülle der modellierten Falten-
partien steckt noch die extreme Ubersteigerung
der hier umgeformten Kaskadenfalten. Es wäre
angesichts dieses so hoch qualitätvollen Wer-
kes, das schon alles beinhaltet, was über den
18
haben und selbst diese Jahreszahl als Weihe-
datum wohl zwei oder drei Jahre nach der
eigentlichen Schöpfung liegen muß, ist die Ent-
stehung der Purgstaller Madonna mindestens
ein Jahrzehnt früher anzusetzen, also in den
Beginn der dreißiger Jahre. Hier kommt nun des
Meisters grundlegende künstlerische Bedeutung
voll zum Ausdruck. Hatte dodt um diese Zeit
der Weiche Stil gerade seinen extremen Höhe-
punkt überschritten. Neben diesem schöpferi-
schen Vorausblick beweisen die raffinierte Tech-
nik und Sorgfalt des bildhauerischen Könnens
auch noch ganz deutlich das Jugendwerk des
Künstlers: nach hatte er nicht die Berühmtheit
erlangt oder genügend Aufträge, um zum Rou-
tinier zu werden.
Stilistisch knapp vor der FreisingerMadonna steht
nun ein weiterer Fund aus den beginnenden fünf-
ziger Jahren unseres Jahrhunderts, die HAlN-
BURGER MADONNA (Wien, Privatbesitz) [Abb.
2, 5, 8]'. Sie wurde in einem Weinhauerhaus
in Hundsheim entdeckt und in den ersten vor-
sichtigen Zuschreibungen in verschiedenen Ver-
öffentlichungen unter dem Namen „Hundsheimer
Madonna" bekannt. Nach der Überlieferung wa-
ren es die Türken, die das Gnadenbild am Hoch-
altar der gotischen Pfarrkirche zu Hainburg mit
Säbelhieben beschädigten, wobei als stärkste
Einbuße die Nase der Maria sowie Kopf und
Schulter des Jesuskindes verlarengingen. Die
dilettantische Hand eines Barockbildhauers er-
gänzte diese Teile stilistisch widersinnig und in
Weichholza. 1953 kam die bedeutende Skulptur
nach einer unvollständigen Restaurierung durch
das Denkmalamt ein Jahrzehnt als Leihgabe
vorübergehend in die Hundsheimer Pfarrkirche,
um darauffolgend einer gewissenhaften Frei-
legung und Rekonstruktion unterzogen zu wer-
den. Erst die gründliche Entfernung sämtlicher
späterer Zutaten und Ergänzungen brachte das
eigenhändige, kraftvolle Meisterwerk Jakob
Kaschauers ans Tageslicht.
Die stilistische Fortentwicklung zur Freisinger
Madonna hin ist in diesem Exemplar bereits in
einem Maß erfolgt, daß man die beiden Skulp-
turen, abgesehen von der Mondsichel, dem
Mondgesicht und der Wolkenbank, auf der die
Hainburger Maria ruht, im ersten Augenblick als
identisch bezeichnen könnte. Das einzige sofort
auffallende Kriterium ist der weniger strenge,
immer noch idealisierte Gesichtsausdruck Ma-
riens. Angesichts der Originale überzeugen aber
sofort die gehobenere technische Sorgfalt und
die markanter geschnittene, typische Faltenge-
bung des Meisters, also die präzisere Ausfüh-
rung, daß es sich hier um ein Bindeglied zwi-
schen der Purgstaller und der Freisinger Ma-
donna handeln muß. In ihrem Gesamteindruck
steht die Hainburger Skulptur der vorangegan-
genen Stilepoche deutlich näher, und wir können
daraus folgend mit Sicherheit annehmen, daß
sie der Stifter des Freisinger Hochaltars, Nika-
demus della Scala, in der Wiener Bildhauer-
werkstätte gesehen und auf Grund seines Ein-
druckes dem Meister den Auftrag für den Frei-
singer Altar erteilt hat. Urkunden konnten bis
heute keine gefunden werden, da aber die Ent-
stehungszeit zwischen der zweifellos früheren
Purgstaller Schöpfung und der datierten Frei-
singer begrenzt ist, zur letztgenannten aber doch
ein spürbarer Abstand besteht, können wir die
Anmerkungen 6-8
f Lindenholz, Höhe mit Krone 185 cm, ohne Krone
rüdtseitig ausgehöhlt, sorgfälti von zahllosen
fassungen und Ubermalungen irsigdtegte urspr
Fassung, die Vergaldun des Mantels vor einer
ken Neuvergoldung grö tenteils mechanisch entfe
nur in den Tiefen und an einzelnen Partien l
erhalten, iedach komplett vorhandene Original;
rung. Uberschläge blau, lnkarnat von Übermolun
bis auf eine nicht sehr ebene Schichte des 17. c
Jahrhunderts freigelegt, da die Originalfassung l
die Lenden des Kindes erhalten war, weil di
später hinzugefügtes Leinentüdtlein schützte. Dia
etwds zu groß ergänzt, Sockelplatte und gesam
tenaufstoli waren abgeschnitten und wurden aus
schert Gründen von einem hervorragenden F:
rekonstruiert. Ansonsten in perfektem, unberührtt
ginalzustand ohne iigendwelche Beschädigungen.
LiL: Die Gdtik in iederösterreich (Jaset Zykun]
1963, Abb. 91, 92.
7Nußbaumholz, Höhe mit Krone 175 cm, rückseit
Eehöhlte, dlfß, übergangene Vergoldung am Mante
berscltläge, arrt Unterkleid nur die ursprün licht
dierung erhalten. Reste des lnkarnats ges los:
gänzt: Krone, Nase, Kinnspitze Mariens, Ober
Jesusknaben, Ärmelschlaufe unterhalb des Kindes
sentlidte Saumscharten. Abgesehen von diesen Folg
absichtlichen Zerstörung in allen Teilen in hervorrat
unberührtem Originalzustand.
LiL: Leopoldine Muckenhuber (in: Unsere Heim
11112, 1954]: Zwei Holzplastiken in niederösterr.
besitz.
Josef Zykan: in „Osterreidtische Zeitschrift füt
udltgenkmalpflege", Heft 1, 1961: Serie 31ff., Ä
derselbe: Die Gatik in Niederösterreich, Krem
Ausstellungskatalog, Nr. 181;
derselbe: Die Gotik in Niederösterreich, Wie!
Abb. 90.
D. Radacsay (in: Acta Histariae Artium, Budapes
Der Hochaltar von Kaschau und Gregor Erhart, Ab
'Wahl während der Säkularisierung unter Josef
der Pfarrkirche entfernt, fand das vielfach ül
und mit derben Ultarben überstrichene Obiekt l
Jahre 1906 seinen neuen Aufstellungsort hinte
Glaswand am Gangende im alten Bezirksgeridtt '
der Kirche am Kirchplatz von Hainburg. Grat t
kirchen, Besitzer eines Gutshofes in Hundsheim,
dieser Zeit dortselbst eine Klosterschule für
kinder gestiftet, welche von drei geistlichen Scf
betreut wurde. Für die dazugehörige Hauskape
die Madonna als Gesdtenk gedacht, ist iEdC
den unverständigen Schwestern nidtt angenommt
den, So wurde das Obiekt unter den Stiegen-
zur Färsterwohnung gestellt, aus Pietätsgründt
einem Nachbarn in letzter Minute Vor der Zet
gerettet und bis zu seiner Wiederentdednung
einem Frivatraum untergebradtt.