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Volltext: Alte und Moderne Kunst IX (1964 / Heft 72)

1 Die Schöne Madonna ; 
von Mariapfzn im Lungau. um 1395. 
Gesamtansicht 
KURT ROSSACHER 
Die Xehäne Madonna uen Älariapfarr im Lungau und ihre Bedeutung für die Gexehiebte der Plaxtik um 7400 
Italien und die filbildang am 1390 
Das europäische Fest der Wiener Ausstellung der Kunst um 1400 
im Jahre 1962 mußte bei allem Glanze ein schöner Torso bleiben. 
Schmerzlicli"; fehlten die Werke aus Böhmen, Schlesien und Polen. 
Vor alleinifehlte die notwendige deutliche Manifestation Italiens als 
einer Hauptwurzel für die Kunst dieser Zeit. 
Die 1390 einsetzende Stilwelle kann nur verstanden werden als ein 
neuerlicher Einbruch absoluter plastischer Werte und klassisch antiker 
Eormgesetze vor allem aus Italien und als die Auseinandersetzung 
der Länder "nördlich der Alpen mit dieser Form. Wohl treten dann, 
vielfältiger pjid weitgespannter als'je zuvor, die alten Querverbin- 
dungen und westöstlichen Strömungen in Aktion. Von Burgund bis 
Böhmen bringen Europas Zentren ihre eigenen Traditionen in die 
Debatte. Vor'al_l_em aber tragen sie in die Gesetze des erneut einströmen- 
den klassischen Formgefüges wieder und wieder jenes bedeutende 
-M0ment emotioneller S annun das Italiens Kunst eschichte so ein- 
., P g: g 
fach als „Nordismo" zu bezeichnen pflegt; 
Ein wesentlicher Teil der Auseinandersetzung, die zur Stilbildung um 
1400 führtßvollzieht sich in den frühen neunziger Jahren auf dem 
breiten Glacis zwischen Alpen und Apenninen, in den Ebenen der 
Lombardei und Venetiens, ballt sich in, den Zentren der Mailänder 
Dombauhütte und Venedigs und hrandlet hinauf über die Hänge des 
südlichen Tirols und Friauls, um dann die Tore der Alpenpässe nord- 
wätts" zu durchstoßen. 
Grundlegende Einzeluntersuchungen darüber hat Herbert Sieben- 
hühnerl zur Mailänder Dombauhütte und Werner Köxte zur Frage 
der deutschen Vesperbilder in Italien 1 durchgeführt. Mehrfach wurden 
die engen Verbindungen Venedigs mit der Kunst Salzburgs und 
Österreichs festgestellt. Viele Namen deutscher Künstler, die um 1400 
vor allem in Norditalien tätig waren, sind uns bekannt. Man wird 
aus diesen Einzeluntersuchungen weiterreichende Schlüsse ziehen 
müssen. , . 
Schon 1829 schreibt L. Cicognara inlseiner „Storia della scultura 
Italiana"3 über die deutschen Plastiker in Italien vor und um 1400: 
„Non tanto per imparare come per esercitarvi la loro arte . . ." f 
Niclit nur zu lernen, sdndern auch, um uns ihre Kunst vorzuführen, 
sind sie gekommen. Damit ist jenes Geben und Nehmen ausgedrückt, 
das die Deutschen in Italien um 1400 charakterisiert. Die großen 
Auftragszentren wie derMailänder Dombau seit 1387 oder die Floren- 
tiner Domopera führen zu einer fruchtbaren Debatte zwischen Deut- 
schen und Italienern. Das Erbe des gotischen Pisa und Siena ebenso 
wie das überall wirksame Erbe! der Antike werden von den Deutschen 
aufgenommen, die ihrerseits neue Spannungen in diese Formen tragen 
und dem Süden neue Gestaltungen, wie das deutsche Vesperbild, 
schenken. In dieser Debatte zwischen Norden und Süden werden 
wichtige Grundlagen gelegt für die Entwicklung in Norditalien ebenso 
wie für Künstler der Generation Lorenzo Ghibertis in Florenz. Hier 
werden aber auch wichtige Grundlagen geschaffen für das große 
europäische Konzert jenseits der Alpen, das nun anhebt und bis in 
die dreißiger Jahre andauert im Schönen Stil, im Weichen Stil, im Stil 
der Schönen Madonnen und Vesperbilder. 
2 . 
In den Ländern nördlich der Alpen war nach 1380 die Form allmählich 
zersetzt und schlaff geworden. Böhmens zentrale Stellung unter Karl IV. 
war verklungen. Hier liegt eine deutliche Zäsur, ein Endpunkt. Die 
Madonna des Altstädter Rathauses in Prag von 13814, die Statuen 
Albrechts II. und Karls IV. aus der Wiener Dombauhütte5 oder die 
Madonna von Irrsdorf bei Salzburg zeigen alle den Formverfall des 
Alten, aus dem es ohne kraftvolle Impulse von außen keine Weiter- 
entwicklung geben konnte. 
Was die zahlreichen deutschen Künstler vor und um 1400 aus ihrer 
Auseinandersetzung mit der Kunst Italiens mitbringen und durch 
Europa tragen, ist das Gesetz einer neubelebten klassischen Form, 
die nun jahrzehntelang in immer neuen Spannungen die Länder bis 
hinauf zur Ostsee durchdringt, bis sie schließlich verbraucht ist, „ver- 
härtet und zertrümmert" wird. 
Die Bedeutung der Pfafengaue und der Kunri Snlgburgi um 1400 
Die Wege zwischen Italien und dem Norden waren nicht zahlreich. 
Der wichtigste Alpenübergang war die berühmte „Pfal-"fengasse" des 
Mittelalters zwischen Salzburg und Trient. Seit den Ottonen war 
sie, um den strategisch wichtigen Alpenübergang von allen Risiken 
freizuhalten, in die Obhut geistlicher Fürsten gegeben. Sie wird von 
einer Kette reichsfürstlich-bischöflicher Territorien gebildet. Haupt- 
trägcr und Nordpfeiler war das Gebiet des Erzbischofs von Salzburg. 
Der salzburgische Lungau sicherte die beiden Hauptübergänge, den 
Radstädter-Tauern-Paß und den Katschbergpaß. Nach Süden bildeten 
dann die Salzburger Enklave Friesach und die Besitzungen der Bischöfe 
von Brixen-Säben und Trient den weiteren Verlauf. Diesen sicheren 
Weg durchwanderten auch die Künstler, manchmal verweilend, um 
einen Auftrag auszuführen, wenn sie aus Italien wieder nach Norden 
zogen. Überall entlang dieses Weges finden wir bedeutende Zeugnisse 
der Kunst um 1400. 
Salzburg nimmt daher durch diese Lage an der Pfal-fengasse in der 
Kunstgeschichte besonders um 1400 eine wichtige Stellung ein. Auf 
5 diese Stellung als „Umschlagplatf der Kunstströmungen hat Theodor 
Müller immer wieder hingewiesenö. In jüngsten Veröffentlichungen 
hat Dieter Großmann Salzburgs zentrale Stellung um 1400 hervor- 
gestellt7. 
Das Gebiet des Erzbischofs wirkt um 1400 wie ein Brückenkopf 
Italiens. Hier vollzieht sich ein weiterer wichtiger Akt der Stilwerdung. 
Die Avantgarde kommt im letzten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts 
über die Pfaffengasse nach Norden. Hier werden die mächtigen Tra- 
lditionen Böhmens, Österreichs, Bayerns und des Rheins mit dem Neuen 
{verschmolzen und neu belebt. Hier entstehen wichtige Prototypen für 
" die weitere Entwicklung. 
Der vorliegende Bericht über die Neuentdeckung der Schönen Ma- 
donna von Mariapfarr im Lungau, der „beata virgo" Maria Trost, 
möge in diesem Sinne ein Beitrag sein zur Kenntnis der europäischen 
Bedeutung Salzburgs um 1400 und seiner Stellung zwischen Italien 
und dem Norden.
	        
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