Für den Kunstsammler
Moderne Form in altem Wiener Silber
Eine weitverbreitete lrrmeinung unserer Zeit nimmt
an, daß schöne und zugleich strenge Formgebung
eine Erfindung des 20. Jahrhunderts sei. Gerade in
der Goldschmiedekunst finden wir immer wieder
ganz glatte, undekorierte Obiekte aus allen Epochen
der Vergangenheit. Wenn auch das kostbare
Material mit Vorliebe durch den Kunsthandwerker
reich dekoriert wurde, hat es doch stets Tendenzen
gegeben, die zu klarer Gestaltung und einfachster
Linienführung aus der Funktionsform geführt haben.
ln dieser Einfachheit zugleich Schönheit zu schaffen,
ist meist schwieriger, als durch reichen Dekor von
schwacher Formgebung abzulenken. Schönheit zu
erstreben durch die Wirkung wohlausgewogener
Silberflächen, durch das rechte Verhältnis von Form
und Materialdicke und durch das Sichtbarmachen
der Funktion ist eine Tugend, die in allen Epochen
nur die Besten erstreben konnten. Eine solche
Gestaltung verlangte vor allem auch einen
Auftraggeber, der Kaufkraft mit hohem Geschmack
vereinte. Nur aus der Raffinesse einer Spätkultur
entspringt ein Geschmack, der auf Dekor verzichtet.
Die Naivität iungen Vermögens oder neuen Adels
wollte meist prunkvolle Ornamente, liebte die
künstliche Anreicherung.
Berühmt für seine klare einfache Farm war das
englische Tafelsilber aus dem frühen 1B. Jahrhundert,
der Epoche König Georgs I. von England-Hannover
Es wundert nicht, daß unsere Zeit auf den
englischen Auktionen das Tafelgerät dieser Epoche
besonders hoch bezahlt.
Das Wiener Gebrauchssilber zeigte schon im
18. Jahrhundert ähnliche Tendenzen. Im Gegensatz
zu den Erzeugnissen Augsburgs, die stets in
reichster Ornamentik iede Regung der Zeitmade
betonten, blieb Wien zurückhaltend. Glattwandige
Formen herrschen var, es wird dickwandiges, solides
Silberblech verwendet. Aufklärung und Josephinis-
mus betonen diese Tendenzen weiterhin [siehe
nebenstehend abgebildetes quadratisches Tablett
mit dem Wappen der Batthyanys]. Besonders schön
sind Wiener Silbergeräte der Zeit um 1800 aus dem
großen Reiseservice und den Feldetuis hoher
Offiziere. Die große Silberablieferung und
-einschmelzung während der Napoleonischen Kriege
vernichtete ungeheure Bestände. Nach dem Wiener
Kongreß kam es daher zu einem großen Nachhol-
bedarf. Ein neues Bürgartum und ein neuer
Geldadel bevorzugten reich dekorierte Formen.
Das Altwiener Silber der Biedermeierzeit mit
seinen getriebenen Rasen, nachempfundenen
Formen des Barocks und des Klassizismus und seinen
oft übertriebenen Dekorationen ist auch heute sehr
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