Oskar Holl
Schönheit, die aus
Anständigkeit entsteht
Zu der Ausstellung „Die Shaker. Leben und Produktion einer Kommune in der Pionierzeit Amerikas", Wien,
Museum des 20. Jahrhunderts, 17. Juli bis 11. August 1974
Woran liegt es, daß eine Ausstellung eines guten
Hunderts einfacher Geräte und rund dreier Dut-
zend Fotografien international Aufsehen erregt?
„Sollte es möglich sein, daß plötzlich Schönheit,
eine unzerredbare Schönheit alltäglicher Dinge,
sinnlich augenfällig, aber in ihrer Erscheinungs-
vielfalt und Stetigkeit der Qualität zunächst un-
erklärlich, ...einen überdurchschnittlichen Auf-
merksamkeitswert erhält . . .?" fragt Georg Ram-
seger in der „Basler National-Zeitung" und fin-
det zu dem Schluß: „Das Wunder ist: wir wer-
den von der Güte der Arbeit so drastisch über-
fallen, daß wir umweglos die Güte der Hände
fühlen", die das geschaffen haben. Francois
Bondy schreibt in der „New York Times": „At a
time in prosperous Eurape when the 'limits af
growth' and the 'end of wastefulness' are nat
mere slogans but are part of reality, the obiect-
world of 'Die Shakers' seemed ta have a mes-
sage for capitalists and socialists alike who, so
far, have been only visualizing, in their different
ways, a hedanistic future." - Eine Vielzahl ver-
gleichbarer Pressestimmen ließe sich noch an-
fügen, allen gemeinsam ist ein Staunen, das mit
der uns anerzagenen Form von Zweckrationali-
töt nicht aufzulösen ist. So als ob unsere markt-
wirtschaftliche, auf Konsum programmierte Ge-
sellschaft nicht zuviel, sondern zuwenig rational
wäre. Mystik des Marktes, Zauberlied der kapi-
talorientierten Werbung kontra radikale Ein-
fachheit einer gesellschaftlichen und wirtschaft-
lichen Utopie - nämlich der Lebensform der ame-
rikanischen Shaker.
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Wie so häufig bei betonter Einfachheit ist es
nicht damit getan, die einfachen Dinge für var-
aussetzungslos zu halten und dann - wie man es
von einem Bericht über Kunstgewerbe erwartet-
gleich zur Obiektbeschreibung überzugehen.
Diese Aufgabe haben die bisher über die Shaker-
ausstellung erschienenen Artikel gut bis vorzüg-
lich gelöst. Hingegen ist es noch nötig, einige
Hintergründe und Zusammenhänge amerikanisch-
europäischer Kulturgeschichte zu beleuchten, die
dem Betrachter der Ausstellung wohl nicht so
geläufig sind. Darauf möchte sich der folgende
Beitrag konzentrieren.
Utopische Gemeinschaften in den frühen
Jahren Amerikas
Der alte Goethe, den das gesellschaftliche Expe-
riment der Vereinigten Staaten vielfach beschäf-
tigt hat, schrieb in dem Gedicht „Den Vereinig-
ten Staaten" (1827) die Zeilen:
Amerika, du hast es besser
Als unser Kontinent, das alte,
hast keine verfallenen Schlösser
Und keine Basalte.
Die darin enthaltene Ansicht, nämlich daß die
USA nicht wie Europa den Ballast der Ge-
schichte mit sich trügen, wurde zu so etwas wie
einem Gemeinplatz. Dabei hält diese Meinung
einer Nachprüfung keineswegs stand: Gerade in
der Entstehungszeit und in den ersten Jahrzehn-
ten sind die Vereinigten Staaten mit den Folgen
der Geschichte der Alten Welt aufs engste ver-
'I Der charakteristische Rundtanz der Shaker,
der Mitte ein Chor. Der Stich gibt zugleich ein
Eindruck von der Raumwirkung der Versam
lungshäuser, in diesem Fall des Gemeindehaus
von New Lebanon, Mitte 19. Jh.
2 lSgäglung der Shaker in Enfield, Connectic
3 Halle des Center Family-Hauses in Pleasant H
lfßäafklllCky, erbaut von Micaiah Burnett, 1824 I
Anmerkun en l-7
' National- eitung, U. 3. T974.
2 New York Times, 23. 3. 1974.
JV I. Richard Fairfield, Communes USA. Baltimore, h
i??? (Penguin Books, 3489), S. 9.
'Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist 4
Kapitalismus. ln: Max Weber, Gesammelte Aufsätze
Religionssoziologie I. Tübingen 1934.
ß München W63.
'Jeffersan ist der Erbauer des Stute Capitol van Virgii
in Ridnmond, des ersten der vielen antikisierenden P
lamantsgebäude der USA.
7 Günter Bandmann, Mittelalterliche Ardiitektur als i
deutungsträger. Berlin W51.