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Volltext: Alte und Moderne Kunst XIX (1974 / Heft 134)

Uberzeugungen der Gründerperiode der ameri- 
konischen Demokratie zugrunde? Es ist dies die 
Forderung nach Einfachheit und Natürlichkeit, 
nach dem Walten der Vernunft - Vernunft so- 
wohl als raison der französischen Enzyklopädi- 
sten wie auch als common sense der angelsäch- 
sischen Tradition - im Leben des einzelnen und 
der Gemeinschaft, im Glauben und im politi- 
schen Bewußtsein ebenso wie in der Wirtschafts- 
form (Jeffersons Ideal der überschaubaren agra- 
rischen Demokratie: ein freies Volk nahezu 
autarker Landwirte) und im Erwerbsleben ganz 
allgemein. Dieser amerikanische Wertekatalog 
wird erst richtig verständlich, wenn man den 
polemisch angegriffenen Gegner hinzudenkt: 
den Feudalismus Alt-Europas mit seinen stän- 
dischen und anderen Bindungen - und eben 
nicht den im I9. Jahrhundert einsetzenden Indu- 
striekapitalismus, den bezeichnenderweise die 
USA bis heute verfassungsrechtlich nicht zu inte- 
grieren vermodwt haben ". 
Pioniere und Utopien 
Erst wenn man sich den gesellschaftlichen Hin- 
tergrund auf die eben beschriebene Weise klar- 
macht, fällt es leichter, die gesellschaftlichen 
Experimente der verschiedenen Sekten und Grup- 
pierungen richtig zu verstehen. Daß die Formen 
eines Alternative Lifestyle in der Frühzeit über- 
wiegend von religiösen Gruppen getragen wur- 
den, hängt einmal mit der, wie bereits festge- 
stellt, damals noch viel stärkeren Verbindung von 
Religion und Gesellschaftsmoral zusammen. 
Zweitens ist die Überlebenschance religiös orga- 
nisierter Dissidentengruppen in den USA aus 
verfassungsrechtlichen Gründen größer, und 
zwar bis heute, wie die gerichtliche Behandlung 
von Gegnern der Wehr- oder Schulpflicht be- 
weist". 
Für alle „utopischen Gemeinschaften" in den 
USA, auch für die heutigen, gilt ein wichtiger 
Umstand; Konflikte zwischen der Gemeinschaft 
und der Außenwelt werden, wenn eine friedliche 
Beilegung nicht möglich ist, durch Abwandern in 
noch unbesiedelte Landesteile gelöst". Manche 
Gemeinschaften, wie die der bibelkommunisti- 
schen Perfektionisten des John Hundlay Noyes 
in Oneida, N. Y., scheiterten letztlich an ihrem 
Unvermögen, entweder die Außenseiterrolle in- 
nerhalb eines sich immer mehr verdichtenden 
"T? 
Lentrums nordamerikanischer Schwerindustrie 
durchzuhalten oder noch einmal die gewadise- 
nen Strukturen zu verlassen. 
Shakertum - eine Ubererfüllung des American 
way of life 
Ann Lee, die „Mutter" der Shaking Quakers, kam 
1774 nach New York, und schon 1776 kaufte die 
entstehende Gemeinschaft Land im damals (und 
außerhalb der Städte heute noch) dünnbesiedel- 
ten Mittelteil des Staates New York. Wie auch 
alle weiteren Siedlungen war die erste, Water- 
vliet, auf Autarkie angelegt, wirtschaftliche Selb- 
ständigkeit und - friedfertige, iedoch unüber- 
sehbare - räumliche Trennung von der übrigen 
Bevölkerung. So ausschließlich auf die Shaker 
beschränkt sich aber zumindest der wirtschaft- 
liche Aspekt nicht. Die Autarkie des einzelnen 
Anwesens ist beispielsweise, wie zuvor erwähnt, 
auch Jeffersons Ideal, sicher die bestmögliche 
Wirtschaftsform bei der dünnen Besiedlung und 
beim harten Leben der Pioniere. Um 1780 verlief 
die Grenze zur Wildnis immerhin erst entlang 
dem Gebirgszug der Appalachen. 
Da zeigt sich bereits, daß die Shaker Ansichten 
zur Maxime erhoben, die im amerikanischen 
Selbstverständnis zumindest ansatzweise bereits 
vorhanden waren; genauer wäre zu sagen: daß 
die Shaker damit einer von zwei einander dialek- 
tisch entgegengesetzten Linien amerikanischer 
Tradition folgten. Ähnliches gilt von der hoch- 
ratianalistischen Auffassung der Religion: Die 
Shaker lehnten äußere Kultformen und beson- 
deres Priestertum ab, ia selbst zum Bibellesen 
wurde nicht ermuntert, sondern statt dessen nütz- 
liche Arbeit empfohlen. Stärker kann man sich 
die Tendenzen des Puritanismus gar nicht ver- 
wirklicht denken. ln die Quäkertradition (Qua- 
ker, wörtlich: Zitterer) gehören auch die gottes- 
dienstlichen Versammlungen mit den ekstatischen 
Schütteltänzen (Abb. 1), die den Shakern ihren 
inoffiziellen Namen einbrachten". Selbst die 
Lehre, daß iedes Mitglied mit dem Eintritt in die 
Gemeinschaft in den Stand der Vollkommenheit 
gelange, ist der puritanischen Rechttertigungs- 
lehre (Erwählttieit) nicht fremd - der abge- 
schwächte, popularisierte Ausdruck dafür ist die 
keineswegs nur hedonistisch zu verstehende Be- 
zeichnung der USA als God's own country. Be- 
kanntlich haben die Shaker mit der Lehre von 
lreppe des lrustees-Hauses in Pteasant 
Kentucky, erbaut von Micaiah Burnett, 1839 
Haus der Center Family in Pleasant Hill, 
tucky, erbaut von Micaiah Burnett, 1824-183- 
Rundstall in Hancock, 1826, Dachkonstruktio 
Shakerhut auf „Shakerleiste", Sabbathday 
Maine, um 1860 
qvgiääimaschine. Plakat. West Gloucester, h 
Ein Shaker. Fotografische Aufnahme um 187 
wmxiosvizs 
Anmerkungen 8-12 
'Sehr einleuchtend wird das dargelegt in einem 
unveröffentlichten Vortrag von Robert H. Bellah (l. 
sify af California, Berkeley]. The American Tabi 
Socialism, im. _ 
' In der Praxis des amerikanischen Obersten Gericht: 
die verfassungsmäßig garantierte Freiheit der rellg 
Überzeugung offenbar mehr respektiert als die 
politisch abweichende Meinung. V 
i" Vgl. die keineswegs freiwillige etappenweise Wanc 
der Mormonen von Indiana und lllinois iizw. M1 
nach Utah, heute die Ansiedlung der Hippies und 
auts in dünnbesiedelten Staaten, wie New Mexico,C 
oder den küstenfernen Teilen Kaliforniens. Auch dii 
berufene Mobilität der amerikanischen yDurchschnittsl 
fährlidl wechseln 40 Prozent der amerikanischen Fa 
den Wohnsitz) wäre einmal in solchem Zusamme 
zu sehen. 
" Selbstbezeichnung: United Saciety of Believers in C 
Secand Appeclring. _ _ 
H Vgl. die genauen BUU- und ßekortlflonsvcrsChrlfte 
Ausstellungskatalag s. 12. 

	        
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