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Volltext: Alte und Moderne Kunst XIX (1974 / Heft 134)

Anmerkungen "I3 14 
" Die Stationen dler Ausstellung bis ins Jahr 1975 sind: 
München, Zürich, Wien, Kopenhagen, Stockholm, Ham- 
burg, London. 
" Zitiert nach dem Katalog der Ausstellung, S. 69-75. 
tierten Umwelt sehen, zu den Umsatzhochburgen, 
den Warenhäusern, den Drugstores (Pariser Aus- 
führung) und den Schwabyions unserer Städte? 
Ist der Mensch nur insoweit Mensch, als er ver- 
braucht, was wohl heißt: Werte verschleißt? 
Die Shaker in ihrer Umwelt 
Das Beispiel der Shaker geht zumindest als ge- 
sellschaftliches Experiment für uns Heutige nicht 
vollends auf. Dafür gibt es verschiedene Gründe. 
Shakergewerbe und kapitalistische Industrie 
Die Shakergemeinschaften haben auch mit der 
Außenwelt Handel betrieben, besonders durch 
Möbelherstellung, Saatgutzucht, Heilkräuterver- 
sand, Weberei und Verkauf landwirtschaftlicher 
Geräte. Entscheidend dabei wandaß die Zwänge 
des Marktes für die Shaker nur bedingt galten, 
weil diese dank ihrer Autarkie den Marktgeset- 
zen nicht restlos ausgeliefert waren. 
Diese Unabhängigkeit vorn Markt erwies sich, 
langfristig betrachtet, aber auch als Nachteil für 
das Überleben der Shaker, denn der Publikums- 
geschmack ging in die Richtung der industriell 
produzierten Massen- und Konsumgüter, wobei 
gar nicht gefragt werden soll, welche Möglich- 
keiten der Marktbeeinflussung der Industrie of- 
fenstanden. Auch die öffentliche Meinung der 
USA neigte, fast bis in unsere Tage, mehr der 
hodigradig arbeitsteiligen Alternative der kapi- 
talistisch betriebenen Industrie zu als der ge- 
werblichen Manufaktur, wie etwa die Shaker sie 
betrieben. In ihrer Art, mit Naturschätzen und 
Rohmaterial haushälterisch umzugehen, waren 
die Shaker ihrer Zeit um 100 bis 150 Jahre vor- 
aus. Erst heute dämmert uns, daß zu jeder wirt- 
schaftlichen Tätigkeit mehr nötig ist als eine be- 
triebsinterne Rentabilitätsrechnung, nämlich eine 
volkswirtschaftliche Gesamtkalkulation, in der 
auch Ökologie und soziale Rückwirkungen als 
ernstgenommene Faktoren einbezogen sind. Viel- 
leicht erklärt das, warum die Shaker, wie man- 
che Pressestimmen verwundert feststellen, „ge- 
rade ietzt" der Vergessenheit entrissen werden. 
Es erklärt aber auch, warum sie in dieser Phase 
des Vergessenwerdens geraten konnten und 
mußten. 
Zu verkürzt wäre es, die Shaker als ein „Anti- 
Amerika" zu sehen. Verkörpert diese Sekte doch 
die engstmögliche Annäherung an die Ideale des 
Furitanismus. Kaum eine andere Gruppe oder 
Gemeinschaft hat die Kontradiktion, die in dem 
scheinbar so rationalen Lehrgebäude des Purita- 
nismus liegt, ähnlich deutlich gemacht. Für ihr Zu- 
sammenleben gilt, doß alle Mitglieder bereits 
Auserwählte Gottes sind, daher unter ihnen volle 
Gleichberechtigung, sowohl der Geschlechter wie 
auch der Rassen, herrscht. Es ist sehr bezeichnend, 
daß Friedrich Engels, der in seinem „Deutschen 
Bürgerbuch für 1845" ausführlich über den Kom- 
munismus der Shaker spricht", zwar deren äußere 
Lebensumstände genau beschreibt,iedoch auf die 
Fragen, wie das Zusammenleben funktioniere, 
worauf es gegründet sei, innerhalb welcher Be- 
dingungen der sozialen Umwelt es stattfinde, 
nicht eingeht. Ob es nun religiöse Vorschriften 
waren oder „nur" menschliche Güte und Gelas- 
senheit, welche das von verschiedenen Zeugen 
gerühmte ausgeglichene und friedfertige Verhal- 
ten der Shaker auszeichneten, Tatsache ist, daß 
es so etwas wie ein Gegenbeispiel war gegen 
die umliegende Verhaltenstraditian und damit 
vernunft, der bewußten und unbewußten Selbst- 
zerstörung aus, ganz abgesehen von der unhisto- 
rischen Verneinung der Zukunft, nämlich gemäß 
der Lehre von dem bereits für gegenwärtig ge- 
haltenen Reich Gottes auf Erden. 
Auch wenn die Shakerkommunen als gesellschaft- 
liches Experiment scheitern mußten (die zwei 
heute noch bestehenden nehmen keine neuen Mit- 
glieder mehr auf und werden mit dem Tod der 
letzten Schwestern aussterben), so können sie 
doch Anregung genug geben, wie ein heute drin- 
gender denn ie nötiger Stil eines von Vernunft 
und Güte bestimmten Zusammenlebens beschaf- 
fen sein müßte, also eine Aufklärung, die mensch- 
licher ist, die schwerer widerlegbar ist als iene 
des "I8. Jahrhunderts. 
Design und Protest 
Der Charakter des Menschen drückt sich in der 
von ihm gestalteten Umwelt doppelt aus: einmal 
im Vorgang der Gestaltung, dann in der Art der 
Benützung. Mit großer Überzeugungskraft doku- 
mentiert die Shakerausstellung eine Ästhetik der 
Ökonomie und Aufrichtigkeit, des dauerhaften 
Erzeugnisses und des optimalen Gebrauchsnut- 
zens. In den gezeigten Beispielen fallen, wie Karl 
Mang es ausdrückte, Ästhetik und Moral zusam- 
men. Dabei tritt eine europäische Überlieferung 
ins Gedächtnis, die im wesentlichen aus einer 
Opposition bestand, bestehen mußte; einer Op- 
position, der William Morris ebenso angehörte 
wie Adolf Laos. Und wer waren und sind ihre 
Widersacher? Alle iene, die an den Schaltstellen 
wirtschaftlicher Macht die überwältigende Mehr- 
heit unserer Gesellschaft nach den Grundsätzen 
der Produktion von Wegwerfgütern und künstli- 
cher Bedürfnisse lenken. Zu Shakerzeiten war 
das nicht anders als heute, im Zeitalter des 
„military industrial complex". ln amerikanischen 
Kommunen von heute glaubt man allen Ernstes, 
daß das Ausbrechen aus dem Konsumkreislauf 
des American way of life, der Rückzug in die 
Seibstversorgungswirtschaft, schon so etwas wie 
ein subversiver Akt sei. Richtig daran ist immer- 
hin, daß nur eine neue Werteskala menschlichere 
Formen des Zusammenlebens erlaubt. Wäre 
diese neue Werteskala übrigens so neu? 
Die Wohlstandsvermehrung, die wir eine Zeit- 
lang so geschätzt haben, scheint an ein von der 
Natur vorgegebenes Ende zu stoßen. Wir wer- 
den, freilich mutatis mutandis, der Tatsache des 
prinzipiellen Mangels wieder einen Stellenwert 
in unserem Bewußtsein einräumen müssen, wie 
er der menschlichen Zivilisation von der Stein- 
zeit an bis zum Beginn des industriellen Zeit- 
alters zu eigen war. Dazu brauchen wir eine 
Ethik des Miteinanderlebens, der Güte und der 
Fürsorge. Nicht zufällig gibt die Shakerausstel- 
lung einen Anstoß in diese Richtung; sie ist 
vielmehr eines der verschiedenen sich mehren- 
den Zeichen. Freilich nicht zum Nachahmen, son- 
dern zum denkenden und vor allem tätigen 
Neuschöpfen aus den Bedingungen unserer Zeit 
möge der Besucher oder Leser sich eingeladen 
fühlen. 
Cl Unser Autor: 
Dr. Oskar Holl 
Lindenstraße 28 
ß München 90 
29
	        
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