breitet hat. Die gleichfalls auf uralter Ueberliefe-
rung fassende, ins griechische Alterthum zurück
reichende jonische Baukunst ist erst nach den
Perserkriegen im eigentlichen Griechenlande wieder
stärker hervorgetreten, hat dann allerdings, beson
ders in seiner korinthischen Weiterentfaltung, den
Dorismus fast völlig verdrängt. Ich sehe auch in
den athenischen Bauten der perikleischen Zeit
keine zufällige Mischung der beiden Stile, sondern
Zeugen des heftigen Ringens zweier grosser Strö
mungen. Ueberhaupt müssen wir uns die griechi
schen Stile durchaus als kein solches Nebeneinander
vorstellen, wie uns die Schulbücher lehren, sondern
als Ergebniss nacheinander auf tretender Wandlungen
der Gesammtbildung, die sich allerdings an einem
Orte früher, am anderen später geltend machten
und an einigen wohl auch nie ausschliesslich zur
Herrschaft gelangten.
Die sogenannte klassische Zeit der Griechen
ist in gewissem Sinne eine Renaissance der my-
kenischen, deren strahlender Verkünder Homer
war, an welchen sich wieder die grossen Drama
tiker schlossen. Dieser Zeit ist nicht mehr die
grosse einige Masse, in der das Einzelnwesen nur
lyrisch hindämmert, das Ideal, sondern das Indi
viduum in seiner vollsten Entfaltung. Im jonischen
Stile beginnen bereits die einzelnen Glieder, Säule,
Sims, Giebel und deren Untertheile, ihr ideelles
Sonderleben zu führen; doch liegt Alles gewisser-
massen noch unter einer schützenden Hülle. Wann
und wo man es zum ersten Mal wagte, diese Hülle
fallen zu lassen und den Organismus sozusagen
in seiner Nacktheit zu zeigen, ist mir noch nicht
klar geworden; jedenfalls zeigen sich Bauten der
Kaiserzeit vielfach in dieser entschleierten Wahr
heit. Es ist die Zeit der Rustika, die in der
Renaissance ihr Wiedererstehen feierte.
Erst die späte Antike legt wieder farbenpräch
tige Mosaik- und Marmorgewänder um die ge
waltigen Mauercolosse, die uns heute nur als Ruinen
ihren Aufbau deutlich verrathen. Von da an bis
zur Renaissance herrscht eine Kunstperiode, deren
Wandlungen gering sind im Vergleich zu dem,
was sie einigt. —
Es ist nothwendig, sich diese grosse Entwicklung
in der Vergangenheit klar zu machen, wenn man sich
heute, wo beide Richtungen wieder wirksam sind
und einander bekämpfen, zurechtfinden will. ^
Cornelius Gurlitt meinte einmal, das Schwierigste
in der Architektur wäre das Finden eines neuen
Grundrisses. Nun, fast alle grossen Baumeister
unseres Jahrhunderts, besonders auch Semper und
unsere Wiener haben den neuen, grossen Aufgaben
entsprechend auch neue Grundrisse geschaffen, und
es wäre nicht schwer, den gemeinsamen Grundzug
bei Allen festzustellen. Aber die Formensprache,
die sie gebrauchen, stimmt zu den grossen Grund
rissgedanken meist gar nicht — wie sie nach
meiner Ueberzeugung auch in hellenistischer und
frührömischer Zeit vielfach nicht passte. Rom
muss, nach den Ruinen zu schliessen, eine Fülle
geschmackloser Bauwerke in seinen Mauern ge
borgen haben. Seien wir nur auch darin unbefangen!
Doch zurück zu unserer Zeit!
Die üblichen Renaissanceformen wollen sich in
ihrer engen Geschlossenheit schon am wenigsten in
unsere reichbewegten Grundrisse fügen. Die Barocke
kann mit ihrer Bravour in unserer kühleren Zeit
unmöglich echt sein, wie auch die mittelalterlichen
Stile entweder theaterhaft oder öde ausfallen.
Otto Wagner, der Führer der neuen Bewegung,
ist aus der Renaissance-Richtung hervorgegangen,
aber er hat sich von ihren Reizen nicht bethören
lassen, etwa wie ein italienischer Redner, der nur
der klangvollen Worte halber spricht. Wenn man
sich an die Formen der Renaissance hält, wo jedes
Glied sein eigenes Recht beansprucht, so muss man
die einzelnen Theile, damit sie innerlich wahr
sind, ihrer besonderen Aufgabe und ihrem Materiale
gemäss ausgestalten oder letzteres wenigstens ent
sprechend wählen. Daher wirft Wagner einen
grossen Theil der überlieferten Formen als heute
nichtssagend bei Seite und gewöhnt so früh sich
und Andere, die Schönheit mehr in der Linie, als
in der Fülle des Zierrathes Zu sehen; deshalb be
vorzugt er auch gerade Formen späterer Epochen,
die unserem heutigen Gefühle näher sind; deshalb
schafft er bisweilen, besonders im Eisenbaue, auch
ganz Neues, das sich aber als künstlerisch echt,
dem Auge nicht aufdrängt.
Doch dieses Sichten und Neubilden ist nur ein
Theil von Wagner's Schaffen, jener Theil, der
auf den Alten fussend, sozusagen die letzte Fol
gerung aus Renaissance und Klassicismus zieht.
Lauter Wahrheiten aneinander gereiht, geben viel
leicht ein gutes Nachschlagebuch, aber kein Kunst
werk. Aufgaben, wie sie in so reicher Entwick
lung seit gut einem Jahrtausend nicht da waren,
verlangen vor allem den Ausdruck des grossen
Gesammtorganismus.