sammenhanglasigkeit dieses Systems aufzuzei-
gen, die Rückenlehne ist rot, die Sitzfläche blau.
Auch von der Farbe her wurde eine eigengesetz-
liche, in sich ruhende Komposition geschaffen,
die dem Eindruck des Schweren und Lastenden,
des Repräsentativen und Klassizistischen wider-
spricht.
Darüber hinaus bietet der Stuhl auch von der
Konstruktion her wichtige Neuerungen. Das tra-
ditionelle Material wurde einem Modularsystem
unterworfen, das dem Handwerker die Ausfüh-
rung ohne Modellzeichnungen erlaubt. Alle Ein-
zelteile des Stuhls wurden aus einem Einheitsmaß
von 10 Zentimetern entwickelt, so ist z. B. die
Seitenlänge 60 Zentimeter : 6 Einheiten, die
Tiefe des Sitzes 40 Zentimeter : 4 Einheiten
usw.
Der bei oberflächlicher Beschäftigung rein geo-
metrisch konzipierte Stuhl erweist sich bei nähe-
rer Betrachtung als durchaus von den Grund-
maßen des menschlichen Körpers abgeleitet.
Auch die Verlagerung der Gewichtsverhältnisse
beim Sitzen mit und ohne Anlehnung des Rük-
selbst die eigentliche Bedeutung dieses Stuhls
als eine über die Möbelproduktian hinausge-
hende an. So schrieb er im Jahre 1919: „Der
größte Vorteil des Systems ist der, daß man frei
ist in der Anordnung der Querhölzer und da-
durch dem Obiekt einen größeren räumlichen
Ausdruck gibt, der uns wiederum befreit vom
konstruktiv gebundenen Entwurf."
Versucht man eine exakte Dotierung dieses wich-
tigen Werkes, so würde man eher auf das Jahr
1919 als auf 1918 oder 1917 kommen. Die erste
Publikation erfolgte im September 1919 (De Stiii
2, 11. September 1919, S. 133). Das bei Brown
abgebildete Foto (S. 17) stammt wahrscheinlich
aus dem Frühjahr 1919, und der Stuhl könnte
gerade in diesem Zeitraum gearbeitet worden
sein. Das Museum of Modern Art in New York
hält an der Dotierung 1917 fest. Brown hält zu-
sammen mit Rietveld das Entstehungsdatum um
1918 für das wahrscheinlichste.
In der Darstellung von Brown wird jedoch der
Eindruck erweckt, als habe der Architekt van't
Hoff im wesentlichen den Kontakt zur Stiil-
5
kens wurde genau berechnet und im Stützsystem
aufgefangen, das in diesem Sinne ein zugleich
konstruktives wie ästhetisches Gefüge ist.
lm Vergleich zu spöteren, gemuldeten Möbel-
entwürten, die ebenfalls gelegentlich auf Ar-
beiten Rietvelds zurückgehen, wirkt dieser Stuhl
allerdings nicht bequem. Seine scharfen Kanten
und Ecken sowie die auf dem rechten Winkel
aufgebaute Grundgestalt zwängen den Körper
mehr oder minder in ein vorgegebenes Gerüst,
das seinem Sitz einen Halt, ia eine vorbe-
stimmte Haltung gibt. In diesem Sinne ist der
Stuhl kein Instrument für verschiedene Formen
des Sitzens oder Liegens, sondern für eine be-
stimmte Haltung beim Sitzen vargeformt, die
selbst beim Anlehnen nur begrenzte Möglich-
keiten der Entspannung bietet.
Obgleich Rietveld mit diesem Stuhl sowohl die
Bahn für die handwerkliche Fertigung wies, als
auch die Voraussetzungen für eine maschinelle
Produktion schuf, in diesem Sinne also die bei-
den damals noch nebeneinander bestehenden
Praduktionsformen bereicherte, sah er doch auch
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Gruppe vermittelt. Diese Tatsache ist und bleibt
unbestreitbar. Auch die Tatsache, daß Rietveld
seine grundsätzlichen Formideen unbeeinflußt
von den Mitgliedern der Still-Gruppe gefunden
hat. Aber der durch van't Hoff vermittelte
Wright-Einfluß erscheint in der Darstellung von
Brown unterschätzt: Erst durch die neue offene
Raumauffassung Wrights war Rietveld in der
Lage, seine eigene Sprache zu finden. Erst durch
das große amerikanische Vorbild erhielt er den
Anstoß, sich in der bereits latent vorgezeichne-
ten Bahn (Tische und Stühle im Schloß Zuilen)
voll zu entfalten und das „schlanke Raumtier",
wie von Doesburg den Stuhl poetisch feierte, zu
entwerfen. Es bedurfte dieser Ausführlichkeit,
um den oft übersehenen Zusammenhang deut-
lich zu machen. Das Genie Wrights wirkte auch
auf Rietveld im Sinne des Anstoßes zu einer
neuen Freiheit der Gestaltung.
l Y Unser Autor:
Prof. Dr. Udo Kultermann
School of Architecture, Washington University,
St. Louis, Missauri, USA
5 Gerrit Rietveld, Mil' "
6 Gerrit Rietvetd, Militar-Stuhl
7 Gerrit Rietveld, Berliner Stuhl, 1923