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Volltext: Alte und Moderne Kunst XX (1975 / Heft 141)

sammenhanglasigkeit dieses Systems aufzuzei- 
gen, die Rückenlehne ist rot, die Sitzfläche blau. 
Auch von der Farbe her wurde eine eigengesetz- 
liche, in sich ruhende Komposition geschaffen, 
die dem Eindruck des Schweren und Lastenden, 
des Repräsentativen und Klassizistischen wider- 
spricht. 
Darüber hinaus bietet der Stuhl auch von der 
Konstruktion her wichtige Neuerungen. Das tra- 
ditionelle Material wurde einem Modularsystem 
unterworfen, das dem Handwerker die Ausfüh- 
rung ohne Modellzeichnungen erlaubt. Alle Ein- 
zelteile des Stuhls wurden aus einem Einheitsmaß 
von 10 Zentimetern entwickelt, so ist z. B. die 
Seitenlänge 60 Zentimeter : 6 Einheiten, die 
Tiefe des Sitzes 40 Zentimeter : 4 Einheiten 
usw. 
Der bei oberflächlicher Beschäftigung rein geo- 
metrisch konzipierte Stuhl erweist sich bei nähe- 
rer Betrachtung als durchaus von den Grund- 
maßen des menschlichen Körpers abgeleitet. 
Auch die Verlagerung der Gewichtsverhältnisse 
beim Sitzen mit und ohne Anlehnung des Rük- 
selbst die eigentliche Bedeutung dieses Stuhls 
als eine über die Möbelproduktian hinausge- 
hende an. So schrieb er im Jahre 1919: „Der 
größte Vorteil des Systems ist der, daß man frei 
ist in der Anordnung der Querhölzer und da- 
durch dem Obiekt einen größeren räumlichen 
Ausdruck gibt, der uns wiederum befreit vom 
konstruktiv gebundenen Entwurf." 
Versucht man eine exakte Dotierung dieses wich- 
tigen Werkes, so würde man eher auf das Jahr 
1919 als auf 1918 oder 1917 kommen. Die erste 
Publikation erfolgte im September 1919 (De Stiii 
2, 11. September 1919, S. 133). Das bei Brown 
abgebildete Foto (S. 17) stammt wahrscheinlich 
aus dem Frühjahr 1919, und der Stuhl könnte 
gerade in diesem Zeitraum gearbeitet worden 
sein. Das Museum of Modern Art in New York 
hält an der Dotierung 1917 fest. Brown hält zu- 
sammen mit Rietveld das Entstehungsdatum um 
1918 für das wahrscheinlichste. 
In der Darstellung von Brown wird jedoch der 
Eindruck erweckt, als habe der Architekt van't 
Hoff im wesentlichen den Kontakt zur Stiil- 
 
5 
kens wurde genau berechnet und im Stützsystem 
aufgefangen, das in diesem Sinne ein zugleich 
konstruktives wie ästhetisches Gefüge ist. 
lm Vergleich zu spöteren, gemuldeten Möbel- 
entwürten, die ebenfalls gelegentlich auf Ar- 
beiten Rietvelds zurückgehen, wirkt dieser Stuhl 
allerdings nicht bequem. Seine scharfen Kanten 
und Ecken sowie die auf dem rechten Winkel 
aufgebaute Grundgestalt zwängen den Körper 
mehr oder minder in ein vorgegebenes Gerüst, 
das seinem Sitz einen Halt, ia eine vorbe- 
stimmte Haltung gibt. In diesem Sinne ist der 
Stuhl kein Instrument für verschiedene Formen 
des Sitzens oder Liegens, sondern für eine be- 
stimmte Haltung beim Sitzen vargeformt, die 
selbst beim Anlehnen nur begrenzte Möglich- 
keiten der Entspannung bietet. 
Obgleich Rietveld mit diesem Stuhl sowohl die 
Bahn für die handwerkliche Fertigung wies, als 
auch die Voraussetzungen für eine maschinelle 
Produktion schuf, in diesem Sinne also die bei- 
den damals noch nebeneinander bestehenden 
Praduktionsformen bereicherte, sah er doch auch 
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6 
Gruppe vermittelt. Diese Tatsache ist und bleibt 
unbestreitbar. Auch die Tatsache, daß Rietveld 
seine grundsätzlichen Formideen unbeeinflußt 
von den Mitgliedern der Still-Gruppe gefunden 
hat. Aber der durch van't Hoff vermittelte 
Wright-Einfluß erscheint in der Darstellung von 
Brown unterschätzt: Erst durch die neue offene 
Raumauffassung Wrights war Rietveld in der 
Lage, seine eigene Sprache zu finden. Erst durch 
das große amerikanische Vorbild erhielt er den 
Anstoß, sich in der bereits latent vorgezeichne- 
ten Bahn (Tische und Stühle im Schloß Zuilen) 
voll zu entfalten und das „schlanke Raumtier", 
wie von Doesburg den Stuhl poetisch feierte, zu 
entwerfen. Es bedurfte dieser Ausführlichkeit, 
um den oft übersehenen Zusammenhang deut- 
lich zu machen. Das Genie Wrights wirkte auch 
auf Rietveld im Sinne des Anstoßes zu einer 
neuen Freiheit der Gestaltung. 
l Y Unser Autor: 
Prof. Dr. Udo Kultermann 
School of Architecture, Washington University, 
St. Louis, Missauri, USA 
 
5 Gerrit Rietveld, Mil' " 
6 Gerrit Rietvetd, Militar-Stuhl 
7 Gerrit Rietveld, Berliner Stuhl, 1923 

	        
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