Kristian Sotrifter
„Bildnerische Erziehung"
oder „Visuelle Kommuni-
kation"? Zur Problematik
eines „Nebenfachs"
„Was soll man denn noch alles machen als
Kunsterzieher!"
Stoßseufzer eines
österreichischen Kunstpädagogen.
Von der Einsicht in den notwendigen Umbau
des Systems unseres Schulwesens, das freilich
noch auf Jahre hinaus den alten Schimmel rei-
ten wird, scheint in Österreich kaum betroffen,
was man sich hierzulande unter dem Begriff
„Bildnerische Erziehung" vorstellt, dem sidt noch
der vom „Werken" hinzugesellt. Im einen Fall
geht es sozusagen um „Höheres", im andern
Fall beschäftigen sich die Mädchen bieder mit
Handarbeiten, während die Schüler männlichen
Geschlechts (in der Volksschule) eine Freistunde
oder sonst eine Art Bostelunterricht genießen,
der meist sinnvoller vollzogen wird als das,
was die meisten immer noch als einen vom
„Zeichenlehrer" vollzogenen „Zeichenunterricht"
entsprechend kennzeichnen. Andererseits kann
man sich unter dem Begriff „B. E." viel oder
auch nur das Wenige vorstellen, was dieses
„Foch" in der Praxis heute zu bewirken vermag.
Im Grund kann man sich's in diesem Bereich
erlauben, nichts oder wenig zu leisten, weil Be-
hörden, Lehrer und Eltern im allgemeinen und
die „Öffentlichkeit" im besonderen, sofern eine
Meinung zu diesem Problem überhaupt besteht,
nicht unbedingt der Ansicht sind, dieser Disziplin
eine den anderen zumindest adäquate Aufmerk-
samkeit zuwenden zu sollen.
Weitgehend unter dem Ausschluß dieser Öffent-
lichkeit machen sich einige wenige Betroffene
Gedanken darüber, wie dies zu ändern sei. Sie
agieren dabei zwischen der von Gleichgültigen
gebildeten Wand auf der einen und den unduld-
sam auf Veränderungen pochenden Aktiven auf
der anderen Seite. Die „Gesellschaft" steht
dieser Auseinandersetzung, die sich noch weni-
ger in der Praxis als in der Form zahlreicher
Publikationen vor allem bundesdeutscher Pro-
venienz abspielt, mehr oder weniger desinter-
essiert gegenüber. Die Eltern der Schüler, um
deren „visueIles Bewußtsein" es geht, haben nie
erfahren, was dessen gezielte Ausbildung zur
Folge haben könnte; jene, die jungen Menschen
ein neues Bild von den Möglichkeiten der Er-
ziehung zur Kunst oder durch Kunst aufzuzeigen
hätten, werden (oder wurden bisher) dazu von
keiner Seite entsprechend vorbereitet. Womit
also die Frage nach den Erziehern der Er-
zieher verbunden ist. Und was die Theorie in-
zwischen an Vorstellungen entwickelt hat, ist so
vielfältig und verwirrend, daß sich von ihr
allgemeine Regeln kaum ableiten lassen. Der an
Veränderungen überhaupt Interessierte bleibt
weitgehend auf sich selbst gestellt; gewonnene
Einsichten kann er nur schwer verwirklichen,
wenn die vorgesetzte Behörde oder der jeweili-
ge Schuldirektor sich nicht wenigstens - sofern
sie flexibel sind - auf neue Versuche einlassen
will.
Der folgende, einerseits aus der Einsicht in die
für eine Gestaltung unserer Welt notwendigen
Maßnahmen geborene, andererseits ein diskre-
pantes und unübersichtlich gewordenes Verhal-
ten vieler eng Beteiligter veranschaulichende
Beitrag sucht notwendigerweise bruchstückhaft
zu resümieren, was bisher gedacht, projektiert
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und - dies am allerwenigsten - realisiert werden
konnte, um jene Empfänglichkeit auszubilden,
von der bereits Schiller in seinen Gedanken
über die ästhetische Erziehung des Menschen
sprach. Je beweglicher diese Empfänglichkeit sei
und je mehr Fläche sie den Erscheinungen dar-
biete, desto mehr Welt ergreife der Mensch.
Ästhetische Erziehung
Worüber man sich leicht einigen kann, sind
einige grundsätzlich zu stellende Forderungen.
Sie betreffen das, was man zuletzt unter dem
Begriff der „Sacial creativity" zusammengefaßt
hat. Dabei handelt es sich um die „Bestätigung
unserer Fähigkeit, aus eigener Initiative, noch
eigenem Willen und Gesetz, unter neuen, viel-
leicht noch weitgehend unbekannten Bedingun-
gen Neues zu schaffen'". Sie sei nach Auf-
fassung des deutschen Pädagogik-Philosophen
Hartmut von Hentig, auf den man getrost hären
darf, heute „einerseits nicht auf (privates) künst-
lerisches Schaffen beschränkt und andererseits
nicht von der Technik, der Wissenschaft, der
Politik und Wirtschaft ausgeschlossen". Im ge-
sellschaftlichen Leben werde sie geradezu uner-
läßlich. „Maschinen, Erkenntnisse, Bündnisver-
träge und Preise kann man planen, konstruie-
ren, vereinheitlichen, einsetzen und manipulie-
ren. Menschen zwar auch - aber man sollte es
nicht. Hier braucht man vor allem Phantasie,
Spontaneität, Bereitschaft zum Außergewöhn-
Iichen, zu Originalität, ja zur Unordnung und
Subjektivität - und, das muß man gleich dazu
sagen, man wird sie um so besser einsetzen kön-
nen, je rationaler man die Voraussetzungen dazu
geplant hat."
Aus der Erkenntnis, doß die Leistungsfähigkeit
jedes Erziehungs- und Bildungssystems auf der
„hochgradigen Angepaßtheit an die vergangene
Lebensform und Gesellschaftsstruktur" beruht
habe, die v. Hentig als ein „stabiles, hierarchisch
gegliedertes, elitäres System" kennzeichnet, re-
sultiert eine neue Vorstellung von den Aufga-
ben des Erziehers überhaupt, über die sich alle
zu Wort Meldenden ebenso einig sind, wie die
Praxis solchen Vorstellungen nachhinkt. Etwa
jenen, daß die „Erzieherschaft" heute
"l. wissenschaftlicher werden, also empirisch ge-
nauer zu erkennen suchen müsse, was ihre Auf-
gabe sei, daß sie
2. politischer und schließlich, daß sie
3. schöpferischer werden müsse.
„Wagnis und Sensibilität, Ironie und Spiel, Be-
reitschaft zu unkonventionellen Lösungen und
Konsens - diese Elemente der Kunst - sind nicht
Tugenden, die die funktionalisierte Welt erst
aushaltbar machen. Es sind Tugenden, ohne die
sie nicht funktionieren würdei."
Unsere ästhetische Erziehung, formuliert von
Hentig an anderer Stelle", stehe in einem
grotesken Mißverhältnis zu unserer ästhetisdwen
Beanspruchung - „und erst recht zu unserer
wissenschaftlichen, beruflichen und politischen
Erziehung". Man erkenne heute allmählich, „daß
der Mensch einer ästhetischen Erziehung und
das heißt einer systematischen Ausbildung seiner
Wahrnehmungsmäglichkeiten, des Wahrneh-
mungsgenusses und der Wahrnehmungskritik
gerade deshalb" bedürfe, „weil potentiell alles
künstlerisch gestaltet oder mißgestaltet sein
kann... Eine ästhetische Erziehung bestünde
folglich vor allem darin, den Menschen von klein
auf die Gestaltbarkeit der Welt erfahren zu
lassen".
Musische Erziehung
Derartige Forderungen unterscheiden sich nun
radikal von dem, was man bisher (und zum Teil
heute noch) unter bloß „musischer Erziehung"
und als „Ausgleich" angesehen hat. Noch 1950
sah ein Pädagoge, Otto Haase, in ihr „das
stück der Menschenbildung "', und man Vl
der Annahme nicht fehlgehen, daß dies
seitige Vorstellung, durch die weltfremde e
sche Wesen gezüchtet werden und auf d
deren Seite nichts, noch heute von vielen
sinnigen" geteilt wird. Aber gegen die
verbundene Meinung, Kunsterziehung sei i
zusetzen mit „musischer Erziehung" nar
Gleichung „ganzer Mensch" : „heile
(eine nach G. Benn „archaische Erinne
wird von allen Apologeten eines neuen E
fens der anstehenden Aufgaben nicht erst
dings zu Recht polemisiert. Schon Konrad I
hatte darauf hingewiesen, daß es kein
eine ausschließlich der Kunst zufallende A1
sei, „den Menschen das Gebiet östhe
Empfindungen aufzuschließen oder zu
terns". Denn die Dinge, welche diese
findungen hervorrufen, „werden beständig
seln, und es wird immer ein vergeblich
mühen sein, dafür ganz allgemeingültig
zipien aufzufinden". Neu formuliert lie
diese Erkenntnis so: Entfremdung von de
rühre vom Sozialprozeß her „und nic
irgendwelchen Veränderungen, die sich r
Menschen an sich... zugetragen haber
Theodor W. Adorno sich ausdrücktef. A
seits: „Alle Dinge wenden sich um, a
griffe und Kategorien verändern ihren Ch
in dem Augenblick, wo sie unter Kunst bet
werden, wo sie sie stellt, wo sie sich ihr :
(G. Benn)7.
Mit dem Begriff der „musischen Erziehun
fen parallel die Begriffe „bildnerisches D
und „Ganzheit", von Wolfgang Klafkis
angegriffen wie von H. K. Ehmer, der fr
daß das Schöpferische in der Pädagog
„fragliche Größe" sei und Kunsterziehu
gemeine: schöpferisches Verhalten ebens
bewirke wie Mathematik das Denken
(was uns ja wiederum die Mathematike
machen wollten). Die Verknüpfung von
tätigkeit und Kunstverstehen sei nur S1
dingt und nur auf einer „vorläufigen"
möglich.
Der altväterische Glaube an den „m1
Menschen" basiert seinerseits auf eine
monievorstellung, die längst nicht me
Denn „daß der Mensch das nicht auf H:
angelegte, sondern in Gegensätzen verl