testens dann als Schimäre erweise, „wenn diese
Kinder, aus der Schule entlassen, den unmittel-
baren Zwängen von Produktion und Distribution
unterworfen werden"". Wozu nur zu sagen
wäre, daß es natürlich auch noch andere Zwänge
gibt, einen Denkzwang etwa, dem die Neomar-
xisten zum Opfer fallen, die immer noch das
Heil des Menschen darin zu erkennen glauben,
daß er sich äußeren Pressionen entzieht, und
desto sicherer seinen inneren erliegt.
Ansätze für neue Modelle
Welche Vorstellungen könnten nun an die Stelle
der an- und abgegriffenen alten treten, welche
Bezeichnung soll diese Disziplin erhalten, die
sich mit „allem Wahrnehmbaren und Wahr-
nehmung, zugleich aber auch mit Wahrneh-
mungskritik und einem emanzipatorisd1en Pra-
zeß" beschäftigt, „der stets seine Vermitteltheit
mitzureflektieren hat", wie es im besten ein-
schlägigen Jargon formuliert wurde"?
Eine der Hauptforderungen, die gestellt werden
und gestellt werden müssen, ist die, dem Fach
seine Möglichkeiten vom Beginn bis zum Ende
des Schulbesuchs zu geben. Die alten, bekannten
Sachbereiche: Zeichnen, Malen, Plastik sollen
ausgeweitet werden und Wohnen (l), Architek-
tur, Umweltgestaltung, Fotografie, Film, Kunst-
betrachtung und Formgestaltung („Design") ein-
beziehen.
Parallel dazu: Förderung der von den amerikani-
schen „Creativity"-Forschern Lowenfeld und
Guilford als Voraussetzung für schöpferische
Leistung genannten Faktoren:
Sensivität - Aufnahmebereitschaft - Umgestal-
tungsfähigkeit. Lowenfeld ging bei seinen For-
schungen von der Kunst, Guilfard von den Wis-
senschaften aus. Beide gelangen - nicht sehr
überraschend und sehr einsichtig - zur selben
Erkenntnis, aus der somit geschlossen werden
darf, daß schöpferisches Vermögen in Kunst
und Wissenschaft auf dieselben Faktoren zu-
rückgeführt werden kann "i
Junge österreichische Kunstpädagogen gelangen
zu folgenden Forderungen:
i. Sehvermittlung (als Voraussetzung auch einer
entsprechenden Betrachtung etwa in den Natur-
Wissenschaften).
2. Das Aufspüren nichtverbaler, unmittelbarer
Kornmunikationsmöglichkeiten. Im Zusammen-
hang damit die Förderung praktischer Anwen-
dungsmöglichkeiten des Aufgefaßten und Wie-
derzugebenden.
3. Abkehr von einer rein musisch-ästhetischen
Fragenbehandlung.
4. Ausbildung von Fähigkeiten wie Sensivität,
Kreativität als prinzipielle Lebenshaltung, Schu-
lung einer kritischen Einstellung.
Erstes Bildungsziel dabei wäre das „Freimachen
des Menschen". Jürgen Zimmer nennt dies „auto-
nomes und kompetentes Handeln in Lebens-
situationen"" und betont die Notwendigkeit
der Entwicklung eines kreativen Moments im
Hinblick auf die Wissenschaft, produktive Hy-
pothesen und Kombinationen.
Ein Theologe, Uwe Gerber, meint die künst-
lerische Erziehung aus dem nur Gefühlsmäßigen,
aus der bisherigen Definition von „Begabung"
und „Muse" sowie „aus der deduktiv-subsumie-
renden Kunstheorie... in einem emanzipatori-
schen Bildungsprozeß" entschränken zu müssen
- einem Prozeß, „der seine eigene Vermitteltheit
kritisch durchschaut und realutopisch transzen-
diert"".
Die Praxis
Derlei liest sich ganz gefällig, aber welcher
Praxis sollen derartige Forderungen integriert
werden, welchem System, welcher Stundenanzahl,
30
welchem Lehrerpotential? Wie steht der direkt
Betroffene überhaupt zu seinem Problem?
Denn „betroffen" scheint er im doppelten Sinn
des Worts, scheinen auch die Verbände, die
sich der Angelegenheiten der Kunsterzieher an-
zunehmen aufgefordert fühlen. Sie befürchten,
aufgeschreckt durch ein mitunter recht forsches
Vorpreschen der Veränderungswilligen einer-
seits und eine generelle, der Disziplin von seiten
der Behörden widerfahrende Lustlosigkeit an-
dererseits, daß eine „Abschaffung der ästheti-
schen Erziehung" überhaupt drohen könnte".
Während auf der einen Seite umfassende und
interdisziplinäre Programme ausgearbeitet und
diskutiert werden, schränkt man die Möglichkei-
ten des Fachs in Österreich ebenso wie in der
Bundesrepublik ein. Während man es in der
Bundesrepublik versteht, wenigstens einen Teil
der Öffentlichkeit zu mobilisieren, begnügt man
sich in Österreich mit sorgenerfüllten internen
und von der Furcht vor disziplinören Maßnah-
men erfüllten Diskussionen sozusagen unter var-
gehaltener Hand, was den Verdacht aufkom-
men lassen könnte, man bange weniger um den
Verlust der Existenz eines Fachs als um den einer
Anstellung als Beamter.
Zum Thema Lehrplan hat also nur der Bund
Deutscher Kunsterzieher im Frühiahr 197i eine
Fragebogenaktion veranstaltet". Interessant
dabei ist u. a., welche Ausrichtung des Fachs
von den meisten befürwortet wurde, und zwar
unter folgenden Gesichtspunkten:
a) Kunsterziehung (z. B. musisch; ästhetisch-
bildnerisch)
b) Kunstunterridtt (z. B. rational überprüfbare
bildnerische Lerninhalte)
c) visuelle Kommunikation (nach den Vorschlä-
gen etwa Möllers)
d) Gesellschaftskritik im Sinn des Neomarxis-
mUS.
Für a) votierten 58 Prozent, für b) 63 Prozent,
für c) 22 Prozent und für d) 3 Prozent, wobei
klar ist, daß sich manche sowohl als auch ent-
schieden haben. Das Ergebnis dürfte etwa auch
den Verhältnissen in Österreich entsprechen,
wobei hier vermutlich die meisten Stimmen auf
o) entfallen würden, was betrüblich ist, aber
als Faktum registriert werden müßte, bevor man
sich hachfliegende Gedanken über - auf Grund
vorhandener Strukturen nicht realisierbare -
Veränderungen macht.
Gegen die „einseitig-politische Einengung"
(siehe dazu den Abschnitt weiter unten) des
Fachs - gemeint sind damit Vorstellungen Mül-
lers" und H. K. Ehmers" - wenden sich die
Betroffenen zum Teil ebenfalls vehement.
„lch werfe den meisten neueren Kunsterzie-
hungstheoretikern eine weitgehende Praxisfremd-
heit vor", schreibt ein deutscher Kunsterzieher
an den Autor dieses Beitrages". „So werden
die auch für den Grundschullehrer gedachten
Schriften Gunter Ottos z. B. weder gelesen noch
iemals verstanden." Andererseits „kann man
behaupten, daß jahrelanger Unterricht bei ein
und demselben, womöglich geistig sterilen Leh-
rer die Vernichtung aller tieferen Zwecke des
Faches ,Kunst' bedeuten muß".
Zum österreichischen Problem meint ein sich mit
Fragen Bildnerischer Erziehung seit langem be-
schäftigender Hochschullehrer", daß die Schul-
behörden ihrerseits „Kunsterziehung" im her-
gebrachten Sinn aufgegeben hätten. Doch habe
„allem Anschein nach vorerst nur Verwirrung
anstelle neuer Gedanken Platz gegriffen. Da-
durch entsteht Ratlosigkeit bei den im Dienst
stehenden Lehrern . . . der Nachwuchs aber wird
zwischen sich widersprechenden Anforderungen
im Ausbildungsplan zerrieben".
Verwirrung und Ratlosigkeit werden also von
allen Seiten in eine Angelegenheit hineingetra-
gen, die doch zu wichtig erscheint, als daß man
es dabei bewenden lassen könnte, abzuwarten:
„Wir können nicht mit dem Handeln warten, bis
wir mit dem Denken fertig sindfs." Daß sich
neue Gedanken schwendurchsetzen, ist nun tat-
sächlich von den Gesellschaftsstrukturen bedingt,
unter denen wir heute zu leben und zu leiden
haben und die durch die zähe, klebrige Substanz
des Nichtverstehen- und Begreifenwollens derer
geeint wird, die neuen Ansötzen von vorneherein
ausweichen. Noch immer sind es hauptsächlich
die bewahrenwollenden Instanzen, die keine
politischen, moralischen, kulturellen Veränderun-
gen wollen und innerhalb deren Lernen nichts
anderes als ein Reproduzieren vorgeformter
Erfahrungs- und Verhaltensmuster bedeutet. Paul
Lengrand, Leiter der Abteilung für Erwachsenen-
bildung im Departement für Erziehungshilfe der
UNESCO, formulierte es so:
„Die Instrumente, über welche die Gesellschaft
zur Unterrichtung und Ausbildung der zukünfti-
gen Bürger verfügt, Schule uncl Universität, zei-
gen seit Generationen immer das gleiche Bild:
nur seltene Verbindung zum praktischen Leben,
fehlende Kenntnis der Realität, Trennung von
Vergnügen und Lernen, kein Dialog, keine Zu-
sammenarbeit. Die Mehrzahl der Schul- und
Universitätssysteme unserer Zeit ist darauf aus-
gerichtet, einen Menschentypus heranzubilden,
der die Vorstellungen und Richtlinien der Ge-
sellschaft unbesehen annimmt. Was die Mächti-
gen, gleich welcher Art, am meisten fürchten, ist
ein kritischer Geist"? Und so gelangen wir
also zum politischen Moment der Angelegenheit.
Das politische Moment
Nur ein neues Bewußtwerden von den Möglich-
keiten, die iede Form der Aktivität auch zu
politischem Handeln werden läßt, weil sie in
Bestehendes eingreift, scheint dazu führen zu
können, wieder ienen Boden unter die Füße zu
bekommen, der allen Beteiligten weggezogen
wurde. Allerdings scheinen die bisher vorgeleg-
ten Modelle, entkleidet man sie ihres dialek-
tischen Brimboriums, wenig dazu geeignet, prak-
tische Lösungen zu ermöglichen, die überdies
den gesamten Schulbereich betreffen müßten. So
plädiert man für die Erhaltung oder gar Aus-
dehnung des Kunstunterrichts (was, wie man viel-
leidwt gesehen hat, gar nicht so sehr neben als
vielmehr mit den übrigen Disziplinen funktionie-
ren könnte) „mit Hilfe pädagogischer, psycholo-
gischer und kulturanthrapologischer Argumente,
die alles anrühren, nur nicht das, um was es geht,
nämlich das, was ist, und nicht das, was sein
soll"". Der iunge Mensch soll dazu befähigt
werden, „im Spannungsfeld der Realität kritisch
und engagiert leben zu lernenz", er soll die
„Befähigung zum kritischen Medienkonsum und
emanzipatorischem Mediengebrauch"" erler-
nen, also kann ein sinnvoller Unterricht in die-
sem Sinn mit der bisherigen Ausbildung der
Kunsterzieher „nicht länger (wenn bisher über-
haupt) gewährleistet werdeniw". Die Ad-hoc-
Gruppe Visuelle Kommunikation in Frankfurt
fürchtet wie andere die „vage Rezeption bürger-
lich-idealistischer Motive" und fordert die Ab-
schaffung des Kunstunterrichts in seiner bisheri-
gen Form. „An seine Stelle tritt nicht ein techno-
kratisch reformiertes Unterrichtsfach, sondern eir
gesellschaftskritisches Visuelle Kommunikation
das sich zu legitimieren hat an seinem Beitrag
für gesamtgesellschaftliche Veränderungen."
Ich weiß nicht, was da besser ist: das Reden ir
bürgerlich-idealistischen Vorstellungen oder da:
soziologische Herumwaten im Niemandslanc
zwischen Politik und Kultur, von der Ohnedie: