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Volltext: Alte und Moderne Kunst XX (1975 / Heft 142 und 143)

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city of hope", die Stadt der Hoffnung - dem 
Untergang geweiht. Und der geistige Untergang 
Britanniens ist für Turner, den Pessimisten, eine 
imminente Realität; der Untergang eines Landes, 
das über dem wachsenden Wohlstand die Kün- 
ste und die geistigen Werte vernachlässigt. im 
Ausstellungskatalog von 1812 versieht Turner 
dieses Bild zum ersten Male mit einem Zitat aus 
seinem eigenen Epos: „Fallacies of Hope" (Trug 
der Hoffnung), ein Gedicht, das van nun an häu- 
fig zitiert wird, das es aber, soweit wir wissen, 
nie gegeben hat, außer als Fragment in Form 
von Zitaten zu seinen Bildern. In „Hannibal" 
verbinden sich zum ersten Male in aller Deut- 
lichkeit lnhalt und Form von Turners Sym- 
bolik. Als Form die „vortex", diese dynamische 
Spirale, als die einzig mögliche Form für den 
Kampf der Elemente, der sich nicht in Flächen, 
sondern in Kraftfeldern ausdrückt; ein ebenso 
revolutionäres wie bemerkenswertes Konzept, 
wenn man bedenkt, daß hier intuitiv Gesetze 
vorausgeahnt werden, die zwanzig Jahre später 
Faraday entdecken wird, die Gesetze der ln- 
duktion. Auch noch als Farm Turners Realismus: 
seine Fähigkeit, das Unmalbare zu malen, oder 
I0 J. M. W. Turner, Venedig mit Salute, ca. 1340- 
1845. Ul auf Leinwand, 61,5 x 92 cm 
11 J. M. W. Turner, Die Walten-Brücken, ca. T806. 
Öl auf Leinwand, 92 x122,5 cm 
12 J. M. W. Turner, Venedig: St. Giorgio Maggiore 
von der Dogana, 1819. Aquarell, 22,4x2 ,7 cm 
13 J. M. W. Turner, Rom vom Vatikan. Raffael 
begleitet von La Fornarina bei der Vorbereitung 
seiner Bilder zur Ausschmückung der Loggia, 
1820. Öl auf Leinwand, 177 x 335,5 cm 
 
wie es ein zeitgenössischer Kunstkritiker aus- 
drückt, „dem Nichts eine substantielle Form ge- 
ben zu können", beruht auf genauester Beob- 
achtung der Natur. „Hannibal" liegen Skizzen 
und Notizen zugrunde, die Turner zwei Jahre 
früher während eines Gewittersturmes über den 
Yorkshire-Sümpfen gemacht hat. Und als lnhalt 
der Kampf zwischen dem Paradiesischen und 
dem irdischen, der Engpaß, hinter dem das 
Licht zum Greifen nahe, doch unerreichbar ist: 
Trug der Hoffnung. 
Mit „Hannibal" verlassen wir den frühen Tur- 
ner, und die Zeit, die nun falgt, bis hin in die 
späten dreißiger Jahre, ist eine Zeit des Kon- 
solidierens, eine Zeit des Vertiefens und eine 
Zeit des Krüftesammelns - die Stille vor dem 
letzten Sturm. „Hannibal" bedeutete den völli- 
gen Bruch mit der Welt, die Turner umgibt, und 
mit ihren Werten. Aber Turner selbst ist noch 
Teil dieser Welt gewesen. Jetzt setzt ein lang- 
samer Prozeß der Entfremdung ein. Die Stim- 
men der Kritik gegen ihn werden lauter, Turner 
gehe zu weit, er sei ein Genie, das sich selbst im 
Wege stehe. Zyniker geben ihm den Beinamen 
„Over-Turner", [„to turn over" heißt „kentern"). 

	        
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