Ein Äquivalent für „divinatorischen Künstersinn"
fordert noch gegen Ende des sogenannten „Hi-
storismus", 1897, Hermann Grimm für die Wis-
senschaft, indem er sagt: „Ein großer Geschicht-
schreiber ist nicht denkbar, in dessen Adern
nicht dichterisches Blut flösse"." Diese Äußerung
bezog sich auf Heinrich Gotthard v. Treitschke.
Semper wird nun nach dem Prinzip befragt, auf
das sein romantischer Idealismus alles, was jen-
seits bloß empirischer Realität ist, zurückführt,
nach dem Prinzip, das er als transzendentes
Absolutum annimmt. Im unedierten Zürcher Ma-
nuskript „Vergleichende Baulehre", dessen Vor-
wort 1850 datiert ist, nennt er als das Einende,
allerdings in der Wissenschaft, die „Weltidee",
als Schöpfer einer davon ausgehenden Wissen-
schaft den schon erwähnten Alexander v. Hum-
boldt". Der Begriff „Weltidee" steht in Konnex
mit Friedrich v. Schellings „Weltseele"". Dieser
metaphysische Begriff meint den Naturgeist, der
zunächst unbewußt, iedach zweckmäßig tätig
gewesen sei und erst im Menschen sich zum
Bewußtsein erhebe und nun zum Obiekt seines
Anschauens mache. Die Vermutung einer Pa-
rallele zwischen Semper und Schelling in diesem
Falle wird dadurch gestützt, daß in der letztzi-
tierten Quelle Semper erklärt, wahre Kunst sei
ohne Religiosität, und zwar pantheistische, un-
denkbar". Der Pantheismus, bekanntlich von
großer Bedeutung in der romantischen Philoso-
phie, hat entscheidende Voraussetzungen im Neo-
platonismus, über den beispielsweise Johann
Gattlieb Fichte 1818 publizierte". Des näheren
schreibt Semper im Zürcher Manuskript: „Natur
prägt ihren Gebilden Form und Charakter auf
nach den Ideen, welche in ihnen verkörpert
sindlßjl
Dementsprechend fordert er für eine „richtige
Kunstform": „. . . dasjenige Gepräge nämlich, wo-
durch das freie Menschenwerk als Naturnoth-
wendigkeit erscheint, der allgemein verstandene
und empfundene formale Ausdruck einer Idee
wird"? Bereits Friedrich v. Schiller zeigt, wie
der Mensch im Unterschied zum Tier das Werk,
das aus der Not des natürlichen „Lebens", also
bloßer empirischer, materieller Realität, entstand,
in ein Werk seiner freien Wahl umschafft".
Semper verlangt speziell für die Baukunst: „Die
Grundidee in der Mannichfaltigkeit der Gebilde
durchblicken zu lassen, ein individualisirtes aber
zugleich ein in sich selbst und mit der Außen-
welt in Einklang stehendes Ganzes darzustellen,
darin besteht das große Geheimniß der Bau-
kunst"." In der gleichen Quelle nennt Semper
ein dieser Forderung entsprechendes Gebilde
„organischwo. Besonders in der antiken griechi-
schen Kunst und selbst bei altgriechischen Schleu-
dergeschossen sieht Semper überzeitlich gültige
Ausprägungen des Organischen. Hierbei hätten
die Griechen nicht etwa die Gebilde der Natur
nachgeahmt, sondern in schöpferischer Weise
das allgemeine Naturgesetz abgewandelt, das
einheitlich sei im kontinuierlichen Zusammen-
hang, also nicht etwa einförmig. So seien die
Tempel und Monumente nicht auf Statik und
Konstruktion allein begründet, sondern vor al-
lem „gewachsen". Statt daß ein Ornament da-
bei äußerlich appliziert sei, seien die tektoni-
schen Teile selbst organisch gestaltet. Deshalb
könne auch nicht rationalistisch ein „Schema"
für altgriechische Bauten erstellt werden. Semper
lehnt es ab, die Kunst aufs Meßbare zu redu-
zieren" oder überhaupt auf äußerliche Verfüg-
barkeit.
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folgt; „Als freie und schöne Kunst kann Architek-
tur nur erscheinen, insofern sie Ausdruck von
Ideen, Bild des Universums und des Absoluten
wird. Aber reales Bild des Absoluten und dem-
nach unmittelbarer Ausdruck der Ideen ist über-
all nur die organische Gestalt in ihrer Voll-
kommenheit?"
Wie für Semper ist auch für Richard Wagner
Ausdruck der Naturnotwendigkeit wesentliches
Kunstkriterium. Im „Kunstwerk der Zukunft", er-
schienen 1850, ist eine Naturnotwendigkeit als
universaler Zusammenhang der Ausgangsbegriff.
Als Gegenprinzip nennt Wagner demnach Iso-
lierung, die Willkür beinhaltet. Trotz der Willkür
kommt nach Richard Wagner die Mode, welche
sich von der Natur isoliert, nicht von ihr los. Die
Mode, sei sie nun gerade „nostalgisch" oder
futuristisch, kann Wagner zufolge nichts erfin-
den, sondern nur ableiten, und muß so notwen-
dig zu nichts anderem als Entstellung der Natur
gelangen. Denn Erfinden sei nur Auffinden, Er-
kennen der Natur. Es sei nochmals darauf hin-
gewiesen, daß hier keiner Naturnachahmung,
etwa im Sinne des „NaturaIismus", das Wort
geredet wird, sondern Schöpfung in Analogie
zur Natur, und zwar zu deren innerer Gesetz-
lichkeit, gemeint ist.
Es stehen sich ietzt in diesem Aufsatz die be-
dingte, realistische Komponente des Kunstwerks
einerseits und die unbedingte, idealistische Kom-
ponente andererseits gegenüber, wie Semper
sie zeigte. Nun ist auf die Art der Verbindung
beider Komponenten einzugehen. Semper sieht
eine solche Verbindung ermöglicht, wo die Form
Symbolcharakter besitzt. Hierzu muß der Ein-
druck realer Bedingtheit eliminiert werden. „Ver-
nichtung der Realität, des Stofflichen, ist not-
wendig, wo die Form als bedeutungsvolles Sym-
bol als selbständige (sic) Schöpfung des Men-
schen hervortreten soll. Vergessen machen sollen
wir die Mittel, die zu dem erstrebten Kunstein-
druck gebraucht werden müssen, und nicht mit
ihnen herausplatzen und elendiglich aus der
Rolle fallenu." Nicht durch Willkür solle der
Eindruck realer Bedingtheit beseitigt werden,
sondern diese Notwendigkeit in der materiellen
Realität, zu der beispielsweise Bedürfnis, Rück-
sicht auf historische Entwicklung und auf Stoff
gehören, zur Potenz erhoben werden, symboli-
sche Notwendigkeit werden. Semper vermeidet
damit Rationalismus ebenso wie subiektive Will-
kür, stattdessen verbindet er Realität und Ideali-
tät, und zwar gesetzmäßig und dennoch frei,
in einer umfassenden Synthese. Die bloße Wirk-
lichkeit wird bei ihm zum Symbol potenziert
und damit Wahrheit. Wo das Symbol ist, da ist
nach Semper die Kunst, die selbständige Schöp-
fung des Menschen, da wird Notwendigkeit zur
Freiheit.
Bereits Friedrich v. Schiller postuliert die Trans-
zendierung des Wirklichen zur Wahrheit: „Wer
sich über die Wirklichkeit nicht hinauswagt, der
wird nie die Wahrheit erobernu." Ähnlich äußert
sich Edward George Earle Lytton-Bulwer, einer
der bedeutendsten Dichter, Philosophen, Esoteri-
ker und Dandys der Viktorianischen Epoche:
„Seht ihr nicht, daß die Größere Kunst, ob die
des Dichters oder Malers, immerdar das Wahre
suchend, das Wirkliche verabscheut; daß ihr
euch der Natur als ihr Meister bemächtigen
müßt, nicht Lakaiendienste tun als ihr Sklave?""
Friedrich v. Schelling sagt: „Auf den höheren
Stufen der iNatur sowie der Kunst, wo sie wahr-
haft symbolisch wird, wirft sie jene Schranken
Abkürzungen von zitierten Werken Sernpers:
S : Der Stil in den technischen und tektonischen
2. Auflage, München 1878
K5 : Kleine Schriften. Berlin und Stuttgart 1884
Anmerkungen 1-27
'S, 1. Bd., S. XXI.
2 Richard Wagner, Das Kunstwerk der Zukunft.
sammelte Schriften und Dichtungen. 3. Bd., 3.
Leipzig a. .I., S. 60 (Erstausgabe Leipzig 1850).
1 Jakob lgnaz Hittorff, Stuttgart 1968, S. 112, Anm. i
t KS, S. 262.
5 5,1. Bd., S. XVIII.
t Gesammelte Schriften. 6. Bd., Berlin 1872, S. 123.
75,1. Bd., S. Vlll.
' lbidem.
r K5, s. 400-402.
l" 5,1. Bd., S. XVIII.
l" Beiträge zur deutschen Kulturgeschichte, Berlin 18
"Vorwort, datiert „Paris den 14. Mai 1850", unp
" Van der Weltseele, Hamburg 1798, passim.
" 1. Capitel des 1. Abschnitts, unpaginiert.
ß De philosaphiae navae Platanicae origine, 13er
"' Vorwort, unpaginierl.
17 S, 1. Bd., S. XIII.
1' Etwas über die erste Menschengesellschaft, passim
" Vergleichende Bauiehre, Manuskript, Zürich, Ei:
sche Technische Hochschule, Vorwort, unpaginiert.
z" Ibidem.
2' Über die bleiernen Schleuclergeschosse der A
Frankfurt am Main 1859 (nach S. 7 schon 1854 enl
S. 5, 6; KS, S. 278, 279 (nach S. 259 aufgru
Vortrages von 1853). _
H Über die christliche Kunst, Frankfurt am Main 1E
7' Werke. Stuttgart und Augsburg 1856-1861, 1. Ab
III, S. 206.
1' Philosophie der Kunst. In: Werke, zit. Anm. 22
theilun , V, S. 577.
"S, 1. B ., s. 21a.
7' Über die ästhetische Erziehung des Menschen .
lers Werke, Auswahl in 10 Teilen. Hg. von Ar
scher. B. Teil. Berlin-Leipzig-Wien-Stuttgarf a.
1910], s. 42.
1' Zanani, Leipzig 1842, s. 129 i: The Complete t
E. L. Bulwer, Vol. XIX); ähnlich ibidem, S. 136.