mysteriöse Augenkrankheit zurückgeführt wur-
den, wird Turner heute als Genie gefeiert. Aber
ebenso wie die Einschätzung durch seine Zeit-
genossen kurzsichtig war, so unüberlegt ist jene,
die in ihm den Vater der modernen Malerei er-
blicken möchte.
Zweifellos ist die Turner-Ausstellung in der Royal
Academy (R. A.) einer der wichtigstenBeiträge
bisher zur Einschätzung des Werkes dieses Ma-
lers, das so außerhalb der Hauptströmungen
der europäischen Malerei steht und dessen Ein-
ordnung unter die in der Kunstgeschichte dafür
vorgesehenen Begriffe wie „Klassizismus", „Ro-
mantik", „Präraffaeliten" oder gar „lmpressio-
nismus" nur oberflächlich und selten von Dauer
unseren Ordnungsdrang zu befriedigen vermag.
Es ist die umfangreichste Ausstellung, die ie Tur-
ner gewidmet wurde. Sie umfaßt weit über 600
Werke sowie eine Sammlung von Dokumenten,
Briefen, Büchern und anderem relevanten Ma-
terial und kann mit Recht als eine repräsenta-
tive Darstellung seines Gesamtwerks angesehen
werden. Von den etwa 19.000 Zeichnungen und
Aquarellskizzen, die in den Archiven des Briti-
schen Museums untergebracht sind, ist verständ-
licherweise nur eine Auswahl zu sehen. Einige
der Werke sind verschollen, andere waren un-
zugänglich. Jedoch ist es den Organisatoren ge-
lungen, Turner der Öffentlichkeit in all seiner
erstaunlichen Breite und Vielschichtigkeit vorzu-
stellen, und die Öffentlichkeit hat von dieser
Gelegenheit in unvorausgesehenem Maße Ge-
brauch gemacht. Als sich am 2. März die Türen
schlossen, hatten etwa 450.000 Besucher die Aus-
stellung gesehen. Nicht ganz unbeteiligt an die-
sem Erfolg war der Aufbau der Ausstellung.
Durch eine Gliederung in neunzehn Einzelgrup-
pen, die weder rein chronologisch angeordnet
waren noch ausschließlich von Thematik oder
Problematik bestimmt wurden, ist es gelungen,
ein Gleichgewicht zwischen zeitlicher Kontinui-
tät und der fast verwirrenden Vielschichtigkeit
in Turners Werk zu finden, so daß die Viel-
schichtigkeit zwar erhalten blieb, ohne aber ganz
so verwirrend zu sein.
Organisiert wurde diese Ausstellung von der
R. A., die sie auch beherbergte. Dieser R. A., die
kurz vor Turners Geburt von König Georg lll.
begründet wurde, hatte Turner selbst sein Leben
lang angehört, nachdem er im erstaunlich frühen
Alter von 27 Jahren zum vollen Mitglied gewählt
wurde. Heute herrscht in dieser wie in sa vielen
ähnlichen Institutionen eine eher konservativ an-
mutende Atmosphäre. Die Wände in den "Gän-
gen sind übersäht mit Glaskästen, die alle mög-
lichen Requisiten enthalten, von Sir Joshua Rey-
nolds' silbernen Schuhschnallen bis zu Turners
Angelrute. Eine vergangene Welt scheint durch
die soliden Mahagonitüren vom Heute getr_ennt
zu sein, wobei man zu leicht vergißt, daß die
Einrichtung von Institutionen wie der R. A. auf
das damalige Kunstschaffen einen umwälzenden
Einfluß hatte. (Eben diese Mahagonitüren zum
Beispiel haben zu ihrer Zeit beinahe einen Skan-
dal heraufbeschworen, und es wurde allgemein
als eine Frechheit des Architekten angesehen,
die olterprobte Eiche durch solch neumodisches
und unzuverlässiges Material zu ersetzen - es
waren die ersten Magahonitüren in Europa.) Von
der R. A. und ihrer Bedeutung für Turner soll
später noch die Rede sein.
Bevor ich nun den Leser auffordere, mir beim
Gang durch die Ausstellung zu folgen, möchte
ich noch kurz bei der Zeit in Turners Leben ver-
2
Sohn des Friseurs und Perückenmachers William
Turner und seiner sechs Jahre älteren Frau Mary
Marshall. In Cavent Garden hat er seine frühe
Kindheit verbracht, und Covent Garden war da-
mals, wie auch in gewissem Maße heute noch,
ein Viertel voller Gegensätze: auf der einen
Seite die eleganten Geschäfte, die vornehmen
Equipagen, die wohlpropartionierten georgiani-
schen Häuserfassaden in King Street oder Hen-
rietta Street, die damals natürlich hochmodern
waren, und auf der anderen Seite der Markt mit
allem, was dazugehört; die Spelunken, die Hu-
ren, Abfall und Schmutz, die schäbigen Markt-
karren, die nie abbrechende Betriebsamkeit, ar-
beitende Kinder...; und dann etwas weiter öst-
19b
2 J. M. W. Turner, Selbstporträt, ca. 1798. O1 auf
Leinwand, 74,5 x 58,8 cm. Ausschnitt
19 J. M. W. Turner, Schneesturm - Dampfschiff an
der Einfahrt eines Hafens, 1842. U1 auf Lein-
wand, 91,5 X122 cm. Ausschnitt
wuchs. Ules ist die Welt, ale er vom rrise
schäft seines Vaters aus kennenlernte; ein
spannte Welt voller Widersprüche, eine
die in völligem Gegensatz stand etwa zi
des ländlichen Constable. Es ist wahrschei
daß Turner, der einmal einer der größten
schaftsmaler werden sollte, als Kind, zumi
als kleines Kind, weder Baum noch Strauc
sehen hat, und daß sein erster Wald ein
von Masten, Segeln und Tauen war. Sein E
haus selbst war nicht gerade eine Quellt
Sicherheit und ein Ruhepunkt für den H
wachsenden in dieser rastlosen Umwelt.
Mutter begann die ersten Zeichen einer G:
krankheit zu zeigen, die sich unaufhaltbai
schlimmerte, bis sie dann schließlich, als 1
schon seine ersten großen Erfolge an der
feierte, in einem lrrenasyl in lslingtan
Häufige und vehemente Tabsuchtsanfälle
rütteten den Haushalt; schlimmste Eindrücki
Turner nie mehr verlassen haben und in i
Licht der tiefe Schmerz, den er empfand, i
den späteren Jahren alle Welt ihn selbst
Maler, zum lrren zu erklären suchte, nur Zl
ständlich ist. Auch dürfen wir annehmen,
sein lebenslanges Mißtrauen gegenüber F
hier seine Wurzel hat. Dieses Mißtrauen hir
ihn, trotz seiner starken erotischen Bedürf
iemals eine dauernde und bindende Bezit
zu einer Frau einzugehen. Zwar wissen wi
verschiedenen Verhältnissen, auch von zwt
ehelichen Töchtern, aber diesen Bereich :
Lebens hat Turner völlig von seinem Lebe
Maler getrennt und gegenüber der Wel'
seinen Freunden geheimgehalten. Seine ve
fende und mitunter fast dilettantisch anmu
Hilflosigkeit bei figürlichen Darstellungen, v
lem bei Akten und Frauenbildnissen (vgl.
sica", Abb. 16), mag auch hier begründet
Nach Krankheit und Tod seiner jüngeren S
ster wurde der Elfiährige zu seinem Onkel
Brentford geschickt, einem westlichen, a1
Themse gelegenen Vorort. Dort besuchte t
Schule, und dort auch kam er zum erstt
intensiv mit ländlichen Szenen in Berührur
begann zu zeichnen und zu skizzieren, unc
der zu Hause im väterlichen Friseurgeschäf
den einige dieser Zeichnungen an der Lade
ausgestellt, und ein wohlwollender Kunde
wahl auch die eine oder andere für ein
Pennies gekauft haben. Vater William mu
Begabung seines Sohnes erkannt haben, de
stellte den Ambitionen des Halbwüchsigen
in den Weg, obgleich er ihm keine Ausbi
zukommen lassen kannte. Turner hat nie
regelrechte und kontinuierliche Ausbildun
halten. Er verdiente sich zunächst etwas Ge
dem Kolorieren von Stichen und begann
bald mit dem Kopieren von Aquarellen fü
schiedene Auftraggeber.
Die Tradition des englischen Aquarells, vi
lem des sogenannten topographischen t
rells, verdient noch eine kurze Betrachtung,
das Aquarell und die Aquarelltechnik nehn
Turners künstlerischem Werdegang eine S
selfunktion ein, und zwar nicht nur in
Maltechnik, sondern auch im ästhetischen
seiner Bilder: der Einheit von Licht und
und dem Begreifen der Farbe als kanstri.
Bildelement. Das Aquarell nahm im Englar
18. Jahrhunderts wohl einen größeren Pla
als in irgendeinem anderen Land. „The
graphical watercolour", das topograp
Aquarell, war in gewisser Weise ein Bind