Das Zusammenwirken der Künste verkörpert sich
für Semper besonders in der Glanzperiode der
griechischen Kunst, wovon schon bei Erwähnung
der Palychromiefrage die Rede war. Die griechi-
schen Werke seien „gewachsen, . . . nicht bloß
Gerüste oder sogenannte Strukturschemen, die
mittels äußerer Anheftung von Symbolen aus
der animalischen und vegetabilischen Welt ver-
ziert sind, wozu Professor Karl Bätticher in Ber-
lin sie machen willü". Bötticher hatte diese
Theorie, einen Dualismus von Kernform und
Kunstform, in seiner „Tektonik der Hellenen""
entwickelt. ln letzter Konsequenz muß eine nur
äußerlich applizierte „Kunstform" austauschbar
und dann entbehrlich werden, rationalistischer
Utilität weichen, vor der dann zeitweilig ins
andere Extrem, die Absurdität, geflohen wird.
Der hier behandelte Symbolbegriff Sempers da-
gegen bringt den Dualismus von Kernform und
Kunstform zur Einheit.
Semper macht ferner geltend, beim „ineinander-
fließen aller bildenden Künste bei den Griechen"
konnte das einzelne die Geltung behalten, „wo-
zu es, vermäge seiner selbständigen Schöne, Be-
rechtigung hatte" und nimmt als Kontrast die
„barbarischen Monumente" an, wo „die Harmo-
nie durch das Aufgehen der unselbständigen Ein-
zelheiten in die Gesamtidee" erreicht werdess.
Der sogenannte „Historismus" strebte allgemein
eine Einheit aus der Vielfalt selbständiger Gebil-
de in hierarchischer Stutung in der Kunst an. Das
einzelne war souverän, die Ganzheit suzerän.
Als Beispiel eines Gesamtkunstwerkes, das über
den Einzelbau hinausgeht, gilt Semper der grie-
chische Tempel: „Wir sind schon nicht mehr
im Stande, den griechischen Tempel als Theil
eines größeren Ganzen zu sehen, zu dem er
den Mittelpunkt der Beziehungen bildete, wie
er selbst wieder das Heiligthum umschloß, dem
er der Bedeutung nach untergeordnet warsf."
Semper nimmt schließlich zu einem Gesamt-
kunstwerk auch die Selbstdarstellung des Men-
schen durch die eigene Person hinzu. Er führt
aus: „Dabei (sc. bei Aufstellung eines ,Systems
der alten Tempelverzierung) darf neben der
Malerei der metallene Zierat, die Vergoldung,
die Draperie von Teppichen, Baldachinen und
Vorhängen und das bewegliche Gerät nicht
außer Augen gelassen werden. Auf alles dieses
und mehr noch auf die mitwirkende Umgebung
und Staffage von Volk, Priestern und Festzügen
waren die Monumente beim Entstehen berech-
net. Sie waren das Gerüste, bestimmt, allen
diesen Kräften einen gemeinsamen Wirkungs-
punkt zu gewährenfi."
Ähnlich schreibt Richard Wagner: „Die Archi-
tektur kann keine höhere Absicht haben, als
einer Genossenschaft künstlerisch sich durch sich
selbst darstellender Menschen die räumliche Um-
gebung zu schaffen..."." An anderer Stelle
postuliert Semper einen „engen Zusammenhang
des Kostümwesens mit den bildenden Künsten
und mit der Baukunst insbesondere"; dieser Zu-
sammenhang sei „theils ein solcher, der aus der
Analogie aller Erscheinungen, die für den all-
gemeinen Kulturzustand bezeichnend sind, her-
vorgeht"". Einmal sieht er eine gewisse „Fa-
schingslaune" förmlich als Triebkratt für Kunst-
schaffen und Kunstgenußt", was auch in diesem
Zusammenhang verstanden sein will, wenigstens
partiell.
Die Bezeichnung der zum Gesamtkunstwerk des
antiken Tempels laut Semper gehörenden Men-
schen als „Staffage" zeigt an, daß diese Men-
schen in ihrem empirischen Ich, etwa im Sinne
von Johann Gottlieb Fichte, dabei wesenlos sind,
aber vom Gesamtkunstwerk integriert werden
können, wenn sie sich selbst zum Kunstwerk ma-
chen - wodurch sich der Mensch selbst erlöst.
Das Verhältnis des Kunstwerks zum Menschen ist
hier zwangsläufig subtiler als in naiven Epo-
chen: Obwohl das Kunstwerk von Menschen ge-
schaffen wurde - die auch durch diese Schöp-
fung sich selbst erlösen, wie überhaupt in jedem
ästhetischen Status -, dennoch tritt dies Men-
schenwerk dem Menschen als von ihm unab-
hängige Wesenheit gegenüber. Transzendiert sich
der Mensch aber selbst zum Kunstwerk, so kann
er vom Gesamtkunstwerk integriert werden. Der
Mensch, welcher sich selbst transzendiert, ist in
einem dem „absoluten lch" oder der „lchheit"
Fichtes wesensmäßig verwandten Status. Der
zeitgenössische, vor allem in Wien wirkende
Kunsttheoretiker Jacob v. Falke verwendet eben-
falls den Ausdruck „Staffage" für die Bewohner
einer Wohnung, die ein Ensemble bilden soll,
das durch Zusammenwirken aller Künste zu schaf-
fen ist und dem Gesamtkunstwerk zumindest
nahe kommt. Dieses Zusammenwirken der Kün-
ste und das Ergebnis davon nennt Falke „Deka-
ration", cum grano salis ein Äquivalent für den
Begriff „Gesamtkunstwerk". Falke betont beson-
ders die optische Erfaßbarkeit des Ensembles,
seine bildmäßige Einheit".
Hinter dem Gesamtkunstwerk-Begriff bei Sem-
per steht, wie hinter seiner gesamten übrigen
Theorie und Praxis, die fundamentale Überzeu-
gung von einer kosmisch universalen Kontinuität,
und zwar in Zeit und Raum. Dieses Faktum sei-
ner Kontinuitätsüberzeugung als Grundlage sei-
ner Kunstauffassung war angesichts Sempers
ungeheurer Bedeutung für seine Epoche, die er
auf höchstem Niveau repräsentierte, ia über-
haupt mit erschuf, einer der Beweggründe für
den Verfasser, statt der total irreführenden Be-
zeichnung „Historismus" die Bezeichnung „Kon-
tinuismus" vorzuschlagen.
Darunter versteht der Verfasser eine Kunstrich-
tung des 18. bis 20. Jahrhunderts, welche ein in
Zeit und Raum stetiges (kontinuierliches), von
Zeit und Raum unveränderbares, absolutes, ide-
ales Sein bewußt imaginiert - nicht nur denkt -,
zu welchem die schöpferisch freie Veränderung
in Zeit und Raum Kontinuität zu wahren habe,
was vermittelst bewußt imaginierter, universeller
Synthese geschieht. Die Synthese erfolgt sowohl
inhaltlich als auch formal.
Die Synthese vollzieht sich in Theorie und Praxis
analog. In bezug auf die Vergangenheit setzt
sie Synapsen desienigen voraus, was in der ge-
samten Kunst für Erscheinungsform des überzeit-
lich - nicht zeitlos - Seienden gehalten wird.
Jedes der gefundenen Elemente hat nur Sinn in
bezug auf die angestrebte Kontinuität als Gan-
zes. Bereits das war ein Grund für die konti-
nuistische Blüte des Gesamtkunstwerks. Die Syn-
these muß universell sein, also intentionell muß
alles gegenwärtig sein und in sie eingehen, was
für unveränderlich Seiend gehalten wird; bei-
spielsweise in der Zeit nahm der kontinuistische
Schöpfer des Kosmos in der Kunst die Möglich-
keit einer kontinuierlichen Einheit von Vergan-
genheit, Gegenwart und Zukunft quasi in syn-
chroner dauernder Gegenwart in seinem eigenen
Werk an. Dieses Werk wurde für etwas gehal-
ten, was die universalste Gültigkeit erreicht hatte,
die imaginierbar war. Eine der Voraussetzungen
hierfür war der romantische Pantheismus, ferner
Neoplatonismus und Gnosis.
Derartige Synthesen schufen auf Grund univer-
seller Zusammenschauen nebst vielen anderen
besonders Gottfried Semper und Eugene Ema-
nuel Viollet-le-Duc.
Der Kontinuismus leugnete Veränderung also
nicht und beeinflußte sie auch nicht willkürlich
wie ein Historismus oder Futurismus. Vielmehr
schuf er eine Sytnhese aus Sein und Werden
auf transzendenter Ebene".
Anmerkungen 53-62 _
S" Über die bleiernen Schleudergeschosse der Alten, zit.
Anm. 21, S. 4-5.
5' Potsdam 1844-1852.
55 Zit. Anm. C13, S. 7-3.
5A lbidem, S. 75-19.
v KS, s. 24a.
Mzii. Anm. 2, s. 150.
ßr s, 1. saß. 196-197.
f" S, 1. Bd., Fußnote S. 216-218.
4' Die Kunst im Hause, 5. Auflage, Wien 1883, S. 179, 227,
278, 329, 330, 332.
6' Eingehende Darstellung der Zusammenhänge um den
Kontinuitätsbegritf der Epodie bei Klaus Eggert, Der so-
genannte „Historismus" und die romantischen Schlösser
lllä7geSlttrfeltll. ln: Historismus und Sdiloßbau, München
Für die Zugänglichmachung des unedierten Semper-Manu-
skriptes „Vergleichende Baulehre", Eidgenössische Techni-
sche Hochschule Zürich, ist Herrn Professor Adolf Max Vogt,
Herrn Dr. Martin Fröhlich und Herrn Dr. Kaufmann zu
dGftKEfl.
Ü Unser Autor:
Dr. Klaus Eggert
Kunsthisroriker
Diirergasse 6
1060 Wien
ein Grenzproblem der
zeitgenössischen Kunst in
Osterreich
THAT'S THE WAY-IT SHOULD
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HOPELESS f O Ä
1 Roy Lichtenslein, „Hopeless". Seriegruphie, 1964